Rezension Historisches Indien-Sachbuch: White Mughals, Love and Betrayal in Eighteenth-Century India, von William Dalrymple (2002) – 8 Sterne

Ein faszinierendes Buch über Indien um 1800 – wie sich Engländer und Inder mischen, wie Christen, Hindus und Moslems harmonieren; kuriose, verblüffende, vielsagende Einblicke. William Dalrymple wertet zahllose Quellen aus und schreibt 500 eng bedruckte Seiten plus 50 Seiten Anmerkungen, Literaturliste, Stammbäume, Personenverzeichnis, Kartenskizzen.

Eine Liebesgeschichte ist es indes nur teilweise. Erst etwa ab Seite 220 konzentriert sich Dalrymple einigermaßen auf seine zwei Hauptfiguren.

Darum geht es wirklich in dem Buch:

Vorher tauchen indische Prinzessin und englischer Statthalter gelegentlich für ein paar Absätze auf, doch vor allem malt Dalrymple ein episch breites historisches Bild, berichtet über Hofintrigen, blutige Kriege, Hochzeitsbräuche, Verhütungsmethoden und vieles mehr – fast zu jedem Randaspekt hat Dalrymple zehn Seiten zu berichten, und zwar ohne Handlung, wenn auch gern mit Anekdoten und unterhaltsamen Exzentrikern aller Hautfarben, nicht zu vergessen Dutzende Fußnoten. Die sporadischen Bezüge auf das Hauptpaar wirken im ersten Buchteil unorganisiert und wie nachträglich eingeschoben.

Tatsächlich begann Dalrymple sein White Mughals ja als allgemeines Buch über Engländer, die in der indischen Kultur teilweise aufgingen. Die zwei Hauptfiguren sollten ursprünglich nur auf einer halben Seite vorkommen, bevor Dalrymple sich mehr für diesen Aspekt interessierte und ergiebige Quellen erschloss. Dass der Verlag hier eine Liebesgeschichte vermarktet, wird dem Buch nicht gerecht.

Was mir auch gefallen hat:

Dalrymple bemüht sich nicht, sein Geschichtsbuch durch Fiktion oder aktuellen Reisebericht aufzujazzen. Es gibt keinerlei Dialog (aber endlose Briefauszüge) und nur selten erwähnt er, dass er die vielen Schauplätze wohl alle persönlich besucht hat (wie in einer Fußnote: An Stelle des Mausoleums stehe jetzt eine Motorradwerkstatt und der Besitzer habe ihm versichert…).

Liegen keine Quellen vor, spekuliert Dalrymple kaum oder gar nicht über den möglichen Gang der Dinge. Also ein sehr sachliches, nüchternes Buch, anders etwa als die Romane von T.C. Boyle oder LaPierre/Collins über historische Figuren. Dennoch klingt Dalrymple so überzeugend lebendig, als kehre er gerade erst von einem Musik-Dinner am Hof zu Haiderabad zurück.

Ich muss aber anmerken:

Gelegentlich erscheint White Mughals überladen, gibt Dalrymple fast schon mit Angelesem an. Einige wenige Fakten tauchen doppelt auf und Fußnoten gibt es direkt auf jeder Seite und dann noch einmal hinten im Buch (und hinten im Buch sind es nicht nur Literaturverweise, sondern ebenso wie bei den Fußnoten direkt unter den Buchseiten teils auch weiterführende Kommentare).

Wer sich vor allem für die Liebesgeschichte interessiert, empfindet die ersten 220 Seiten Hintergrundbericht definitiv als lang. Auch manche Briefauszüge und historische Berichte könnte man sicherlich kürzen; allerdings liefern sie neben den sonstigen Einblicken oft auch ein historisches, ornamentales Englisch, das sehr lieblich klingt – und überrascht, wenn man bedenkt, dass es von Kaufleuten, Militärs und Machtpolitikern kommt.

Ein kolossales Werk:

Jeder der vielen indischen Namen wird in jedem der vielen Briefe wieder anders transkribiert, das erschwert die Orientierung. Etwas zu oft betont Dalrymple vielleicht auch, dass entspannter interkultureller Austausch bis etwa 1800 recht normal war. Seine etwas dräuenden Hinweise an entscheidenden Stellen, das bestimmte Episoden tragisch enden werden, wirken melodramatisch in einem sonst angenehm sachlichen – aber nie spröden – Buch.

Ein paarmal hatte ich feuchte Augen. Ich weiß nicht, wann mir das zuletzt mit einem Buch passiert ist. Mal sehen, ob die geplante Verfilmung von und mit Ralph Fiennes das auch schafft.


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