Rezension Reportage-Buch: India: The Road Ahead bzw. Non-Stop India, von Mark Tully (2011) – 7 Sterne

Mark Tully, einst BBC-Mann in Delhi und immer noch der bekannteste Indien-Sachbuchautor, schreibt hier über Politik und Wirtschaft: Naxalites, Unberührbare, Korruption, Landwirtschaft, religiöse Spannungen, Unternehmertum. Thematisch etwas heraus fallen Kapitel über indische Sprachen und indische Tiger.

Die zehn Kapitel haben je 20 bis 30 Seiten und lesen sich stets wie eigenständige Reportagen. Sie bestehen immer aus drei Komponenten: Allgemeine Erklärungen, Besuche bei Professoren, Besuche vor Ort und Gespräche mit Aktivisten und Journalisten, seltener mit Arbeitern, Schülern oder anderen kleinen Leuten. Die Beispiele stammen großteils aus Nord- und Mittelindien; einmal geht es nach Mumbai, einmal nach Tamil Nadu.

Fazit:

Tully liefert spannende Informationen leicht lesbar vor allem über die indische Politik und nordindische Probleme. Die Reportage-Elemente wirken jedoch nie sehr lebendig und fast mehr wie pflichtbewusst eingeschoben. Südindien fehlt weitgehend.

Die Kapitel im einzelnen:

  • Naxalites, Polizei, Stammes-Inder und die Bauxitminen in Jharkhand
  • Unberührbare versus Reichere, u.a. in einem Dorf in Haryana
  • Wählerblocks und die Bedeutung islamischer Wähler in Uttar Pradesh und Bihar
  • Hindutva vs. Säkularismus mit Besuchen in Nordindien
  • Regierungspraxis und Korruption, dazu u.a. Dorfbesuche in Rajasthan
  • Industrie, Landwirtschaft und Mikrokredite, mit Besuchen bei Bauern und Agrar-Verarbeitern im Punjab und bei einer NGO in Bundelkhand (Uttar Pradesh und Madhya Pradesh); getrennt davon:
  • Unternehmertum, genauer die Geschichte des Tata-Konzerns in sehr freundlichen Worten, dafür spricht Tully mit vielen Topmanagern und keinem Arbeiter, einige Tata-Gründer erscheinen mit der ehrerbietigen Nachsilbe “ji”
  • Die Bedeutung der Sprachen Englisch, Hindi und Tamil, mit Gesprächen in Chennai und Delhi
  • Der ferne Nordosten mit einer Reise in Arunachal Pradesh
  • Tiger in Indien, das Versagen der Forstverwaltung, Gespräche mit Aktivisten, Besuch im Panna-Nationalpark in Madhya Pradesh

Unterschiedliche Buchtitel:

Das Buch hat keine Fotos, aber eine instruktive Landkarte, die auch indische Staaten wie Mizoram oder Tripura und alle von Tully besuchten Städte klar anzeigt – einzig Goa erscheint nicht namentlich (und Telangana existierte noch nicht). Dazu kommen eineinhalb Seiten interessante Bibliographie und zehn Seiten Stichwortverzeichnis.

Das Buch erschien im Westen als India: The Road Ahead, in Indien heißt es Non-Stop India. Das erinnert an Tullys Erfolgsbuch No Full-Stops in India (1988). Ich hatte die indische Ausgabe. Je nach Blick aufs Cover liest sich der Titel Non-Stop India auch wie On Top India.

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Braver Pluralismus:

Tullys flüssiges, aber auch biederes Englisch fasziniert nie. Tully müht sich brav pluralistisch, beide Seiten einer Medaille zu beschreiben und alle Seiten eines Konflikts zu zitieren, auch wenn seine Sympathie wohl den ärmeren und unterdrückten Schichten gehört.

Ungebremste Marktwirtschaft und internationale Großkonzerne in Indien sieht Tully kritisch, die englische Kolonialherrschaft sehr kritisch, die aktuelle Verwaltung auch, und die bizarre Planwirtschaft der 60er bis 80er Jahre schildert Tully seltsam fasziniert in mehreren Kapiteln. Tully, der heute auch über Glaubensfragen schreibt und sendet, hat jedoch Indien an sich – sein Geburtsland – eindeutig ins Herz geschlossen.

Im Buch resümiert Tully gelegentlich, kommt aber nie zu knackigen Schlussfolgerungen, sondern wägt ab bis zur Unkenntlichkeit. Der Buchtitel außerhalb Indiens, The Road Ahead, scheint Zukunftsrezepte und Prognosen zu versprechen; doch sie bleiben aus, sieht man von ein paar allgemeinen Zeilen im Schlusswort ab.

Gesetzter Ton:

Die Reportage-Elemente klingen blass und fesseln selten. Es verblüfft, wenn die BBC über ihren einstigen Reporter schreibt:

Whether dodging the bullets during the skirmishes… on the India-Pakistan border, describing the effect of absolute poverty on Calcutta’s street beggars or detailing the horrific aftermath of the Bhopal chemical disaster, he gave a unique insight into the life of the subcontinent.

Dramatische oder auch nur sehr lebendige Schilderungen fehlen weitgehend in Tullys Buch.

Politisches Kleinklein:

Die ersten 100 Seiten handeln von Politik und Gesellschaft in Nordindien, vor allem Uttar Pradesh und Bihar; einige Inhalte überschneiden sich mit Patrick Frenchs India: A Portrait, so Berichte über Bihars Chief Minister Mayawati und über Parlamentsmitglieder, die aus dem Gefängnis heraus Wahlkampf machen. In diesen Politikkapiteln vergräbt sich Tully zu tief in kleine Details; sie gehören in eine Tageszeitung, aber nicht in ein Buch, das noch Jahre später gelesen wird.

Mayawati besitzt laut Tully 520 Millionen Rupien – eine westliche Währung als Orientierung nennt Tully nicht (jedenfalls nicht in meiner indischen Ausgabe), ebenso wie er die Begriffe lakhs und crore unerklärt verwendet (100.000 bzw. 10.000.000).

Schade, dass Delhi-orientierte Journalisten wenig über Südindien berichten. Eigene Erlebnisse aus Südindien liefert Tully erst ab Seite 151, und dann nur vorübergehend. Das ist das Kapitel über Sprachen in Indien – wohl einer der interessantesten Abschnitte: Während alle Indien-Autoren über Kasten und Call Center schreiben, über Bangalore und Big Business, erhält Indiens faszinierender Sprachenwirrwarr zu wenig Presse.

Meinungen zum Buch:

HansBlog.de:

Tully liefert spannende Informationen leicht lesbar vor allem über die indische Politik und nordindische Probleme. Die Reportage-Elemente wirken jedoch nie sehr lebendig und fast mehr wie pflichtbewusst eingeschoben.

Economist:

He knows how to let characters tell stories, and for these in turn to convey his gently astute analysis… he slops happily in the muddy mountains of Arunachal Pradesh on the Chinese border, sweats out daylong election rallies, and breaks bread with low-caste villagers in Rajasthan… The book’s ten chapters at times feel disjointed—neither stitched into an explicit single theme, nor comprehensive by geography or subject—but the author’s presence, just about, holds them together.

Write2Kill:

Non Stop India can be be seen as a classic textbook for old school journalism – he apparently does not take sides, he lends voices to the people he meets, and provides just the optimal background that is necessary to understand the context… in the backdrop of the corporate gurus whose thoughts he often invokes and the fact that there is no direct reference to the ongoing corporate plunder of natural resources in the country, you realise that Tully very subtly drives a corporate agenda… He wants us to believe that the corporate world is virtually innocent and is drawn into the morass that has been created by those who run the system… the book does make for a good read. Eminently readable.

IBN Live:

Mark Tully has skillfully told the story of India in flux. He is lucid and objective, yet sensitive to the many nuances of Indian culture and society. … The topics are varied, the narrative simple. It’s the voice of a sincere and seasoned journalist throughout, attributing facts and opinion, presenting views and counter views…

The Roving Eye:

Essentially a collection of essays which explore the prevailing social and economic conditions of the country… the author’s non-opinionated writing style standing out… The book falls short of providing any real analysis, let alone possible solutions. Tully concludes with simplistic statements… There are some really interesting essays in the book which can be read in isolation. Still, the whole doesn’t quite add up to the sum of its parts.

  • Mark Tully im Inder-, nein Interview über sein Buch und über Reisen in Indien bei Wanderlust.com
  • weitere englische Kritikerzitate beim Verlag

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