Rezension Biografie: Graham Greene, Eine Biographie, von Michael Shelden, 1994, engl. The Man Within (UK), The Enemy Within (USA) – 5 Sterne

Michael Shelden hatte weit weniger Greene-Zugang und Greene-Abdruckrechte als Greenes offizieller Biograf Norman Sherry – einmal wiesen Greenes Anwälte Shelden brieflich in die Schranken, wie Shelden selbst schreibt. Vielleicht klingt Shelden (*1951) deshalb ab Seite 1 unermüdlich boshaft, wie verbissen wühlt er nach Anhaltspunkten für Greenes niederen Charakter: Shelden schildert Graham Greene als sexuell besessen, als Verräter im Privaten und im Spionagemetier, als zugleich Geheimniskrämer und Publicity-hungrig, als Verwirrungstifter, getarnten Homosexuellen, schlechten Vater und ausgerechnet in den 1930er-Romanen als groben Judenhasser und überhaupt, jahrzehntelang, als Hasser.

Übersicht der Greene-Biografien von Norman Sherry und Michael Shelden*

N. Sherry,

Vol. I

N. Sherry,

Vol. II

N. Sherry,

Vol. III

Norman Sherry gesamt

 

Michael Shelden
Zeitraum 1904 – 1939 1939 – 1955 1955-1991

 

 

1904 – 1991
ersch. 1989 1994 1999

 

 

1994
Gesamtseiten 783 562 906

2251

 

537
S. Haupttext 725 + 8 Einleitung 505 + 8 Einleitung 825 + 17 Einleitung

2055 + 33 Einleitung

 

488
S. Anhang 56 53 99

208

 

49
SW-Fotodruckseiten 32 24 24

80

 

16
Gewicht 982 g 708 g 1080 g

2770 g

 

876 g

 

 

Grundton kritisch wohlwollend, lobend, diskret, reise-affin, teils jungenhaft

 

fast aggressiv kritisch, fast ad hominem, immer auf der Suche nach Verborgenem
Schwerpunkte Vergleich von Greenes Reisen u. Begegnungen mit Romanen; Greenes Leben außerhalb des Arbeitszimmers erhält relativ mehr Platz

 

Greenes ausschweifende Sexualität, Spionage, Suizidalität, Verrat, Hass u.a. Charakter­eigenschaften; Romaninhalt und –analyse erhalten relativ mehr Platz
Textaufbau vage chronologisch, mit Exkursen

 

weniger chronologisch, deutlicher an Motiven orientiert
Bestes Greene-Werk lt. Biograf The Power and the Glory (danach the End of the Affair)

 

Brighton Rock, aber auch The Human Factor (danach The Power and the Glory, The Heart of the Matter)
zitiert aus Greenes Büchern und Artikeln sehr ausführlich direkt

 

nein bzw. indirekt, da untersagt
zitiert aus unveröff. Tagebüchern, Briefen, eigenen  Interviews sehr ausführlich

 

sehr wenig, außer Vivien Greene
Englisch-Schwierigkeits­grad mittel

 

leicht
Fußnoten sehr viele

 

keine; allg. Quellenangaben pro Kapitel am Buchende

*Sherry als Penguin-TB, Shelden als Heinemann-Hardcover; Shelden hat offenbar weniger Text pro Seite als Sherry

Ein mieser Typ:

Michael Shelden listet eifrig allerlei überraschende, oft sehr schwammige Indizien – manche Belege klingen indes stichhaltig, und so erscheint Greene (1904 –1991) in diesem Buch deutlich unsympathischer als bei Norman Sherry. Laut Shelden spielt Greene seine angeblichen, bizarr abstoßenden Charaktereigenschaften immer wieder in guten Romanen durch (S. 250):

((Greene)) had the genius to embed his hate within novels that demand to be read…

Über den mit Greene-Zugang priviligierten Biografen Norman Sherry, dessen erster bis 1939 reichender Band 1989 erschienen war, sagt Shelden ab Seite 15:

In 1975 Greene decided to appoint an official biographer, someone who would tell his story with a certain degree of sympathy, admiration and restraint… within his generally sympathetic narrative, he ((Sherry)) found room for exposing some of Greene’s less pleasant qualities.

Shelden selbst hat etwas anderes im Sinn (S. 18):

Greene seems to merit a different kind of biography, one that allows ample room for an occasional wild surmise and ‘gratuitious indecency’. This extravagantly imaginative, passionately disloyal novelist deserves nothing less.

Und (S. 488):

Trying to find moral excellence in his life is not a helpful way to honour him. There is too much evidence to the contrary. Only his best writing can plead a case for the value of his life.

Also bläst Shelden zur Attacke nicht nur auf Greene selbst, auch auf Biografen wie Sherry, die gut abgehangene Greene-Mythen voreilig für wahr erklärten; so sei Greenes oft erwähntes Russisches Roulette mit geladenem Revolver gar nicht gefährlich gewesen, weil er nur mit Blindpatronen gespielt habe; indes verheimliche Greene einen jugendlichen Selbstmordversuch durch Erhängen im Gartenschuppen, weil der nicht heroisch wirke; zugleich findet Shelden Andeutungen auf diesen Schuppen in vielen Greene-Erzählungen.

Vergiftetes Lob:

Tatsächlich produziert Shelden bei aller Dekonstruktion immer wieder auch höchstes Lob, in das er maliziös Gift mischt:

…in the 1930s and 1940s ((Greene)) produced three masterpieces – Brighton Rock, The Power and the Glory, and The Heart of the Matter… no sensitive reader can get through them without frequently wincing at the ugliness of the author’s sentiments, or without resenting a few of his tricks. But they are extraordinary works of art, each packed with sharp insights, poetic images, compelling scenes, subtle messages… No one else has written anything like them… whatever else can be said about his greatest novel, Brighton Rock, few of its readers are likely to forget their first encounter with it.

Dann wieder heißt es (S. 477):

The Human Factor is perhaps his most polished creation, a novel with elegant prose and flawless organisation… one is given a glimpse of a resurgant genius…

Laut Norman Sherry stritten die beiden Greene-Biografen einmal lautstark in einem Buchladen, “the shop had to be hosed down afterwards” (Sherry, Greene, Vol. III, S. 234). Sherry geht im dritten Band seiner Biografie auf Sheldens Antisemitismus-Vorwurf ein und relativiert ihn deutlich  (Vol. III, S. 733ff).

Bei allen Greene-Verfilmungen kommentiert Shelden ausführlich schauspielerische Leistungen und Drehbuch. Und er äußert einen Gedanken, den ich auch habe – dass Greenes Romane aus exotischen Ländern kaum Hot Country Reading sind und fast genauso gut in Oxford spielen könnten. Shelden, S. 401:

Like The Heart of the Matter, The Quiet American makes no attempt to do justice to the local population…

Ich kenne Sheldens Greene-Biografie nur als Heinemann-Hardcover in der englischen UK-Ausgabe. Die Biografie erschien in England als “The Man Within” und mit leicht geändertem Text in den USA als “The Enemy Within” (s.a. NYT-Besprechung unten); die Eindeutschung kann ich nicht beurteilen. Biograf Shelden produzierte auch beachtete Bücher über George Orwell, Melville, den jungen Churchill und den alten Mark Twain.

Nicht chronologisch:

Sein Greene-Buch erzählt Shelden nur oberflächlich chronologisch. Er greift sich ein Motiv heraus – Greenes Spionage-Faible, die Selbstmord-Geschichten, den Katholizismus, Filmarbeit – und fächert von dort in alle Richtungen. Zwar ordnet Shelden die Einstiegsmotive seiner Kapitel vage chronologisch, so dass man momentweise doch an ein nacherzähltes Leben denkt; aber Shelden kommt in jedem Kapitel schnell auf andere Jahrzehnte und vor allem redet er statt über Greenes Leben lieber über dessen Bücher – er erzählt Romanhandlungen über Seiten hinweg, dann folgt noch die Analyse. Die paar Momente aus Greenes außerliterarischem Leben wirken bei Shelden oft nur wie Anlässe für die nächste ausführliche Exegese. Das ist interessant für intime Kenner des Greeneschen Werks; auf weniger Kundige wirkt es unübersichtlich.

So klingt Sheldens Buch weniger wie eine Biografie denn wie ein langer Essay, oder mehr noch wie eine Essay-Sammlung; und tatsächlich erscheinen die Worte “Life” oder “Biography” nicht im Buchtitel. Sheldens Titel The Man Within in Großbritannien (nach einem frühen Greene-Roman) deutet vielmehr schon an, dass der Autor Verborgenes hervorholen möchte. Auch dass Shelden Romane, Briefe oder Tagebücher kaum wörtlich zitieren, sondern höchstens nacherzählen darf, unterstreicht den eher abstrakten Charakter seines Texts und schwächt seine Argumentation – bei Sherry wirkt Greene weitaus lebendiger, fast schon aufdringlich.

Shelden bezeichnet sich auch als “a mere literary biographer” (S. 324). Nur bei Spionage und kompromittierenden Frauenbeziehungen schreibt Shelden deutlich ausführlicher als Sherry. Ein wichtiges Buch über Graham Greene in Haiti und Mittelamerika konnte Sherry nicht kennen: Bernard Diederichs aufschlussreiches Seeds of Fiction, Graham Greene’s Adventures in Haiti and Central America 1954 – 1983 (2012). Der erfahrene Journalist und jahrzehntelange Greene-Begleiter Diederich erscheint nach meiner Erinnerung bei Shelden gar nicht, bei Sherry nur kurz.

Wer beim Lesen auch entspannen möchte, wird mit Shelden sicher weniger glücklich – der maliziös eifernde Ton und die nur vage chronologische Anordnung mit vielen Orts- und Zeitwechseln tragen dazu bei. Andererseits: Shelden schreibt flüssig, bestens lesbar, und die englische Ausgabe stellte mich vor weniger Vokabelprobleme als Greene-Biograf Norman Sherry.

Verblüffend: Ganz unmaliziös, fast ehrfürchtig, aber auch gut schreibt Michael Shelden über den jungen Winston Churchill. Selbst aus Churchills frühem Kontakt zu “music hall girls… of easy virtue” kann Shelden nichts Schlüpfriges ableiten. Da musste Graham Greene anderes erleiden.

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