Buchkritik: Auf nach Afrika. Stanley, Livingstone und die Suche nach den Quellen des Nils, von Martin Dugard (2003, engl. Into Africa) – 6 Sterne

Das Buch fesselt von der ersten Minute, selbst wenn Martin Dugard gelegentlich etwas aufdringlich mythisch raunt und andere altbackene Stilmittel einsetzt. Pepp hat es nie; es klingt aber jederzeit professionell flüssig, nicht verschachtelt oder eingebildet. Man hat auch nicht den Eindruck, dass Dugard seine Hauptfiguren in Schutz nehmen oder verurteilen will, im Gegensatz zu anderen Biografen.

Martin Dugard (*1961) erzählt hauptsächlich David Livingstones letzte Afrika-Expidition, begonnen 1866, und parallel Henry Morton Stanleys Suche nach dem vermissten Livingstone. Dabei wechselt Dugard immer wieder kapitelweise Hauptfigur und Schauplatz: mal Livingstone, mal Stanley, zeitweise auch London mit der Royal Geographic Society, Murchison und Burton/Speke, oder New York und Paris mit Stanleys Verleger Bennett sowie Sudan und Gondokoro mit Samuel Baker; bis Stanley schließlich am Tanganjika-See seine Zielperson trifft: “Dr. Livingstone, I presume?”

Ich kenne nur das engl. Original und kann über die Eindeutschung nichts sagen. Die erzählte Hauptzeit im Englischen, die mit Livingstones letzter Afrika-Expedition beginnt, mischt Dugard nicht nur mit Personen- und Ortswechseln auf, sondern auch per Rückblende und Rückblende in der Rückblende: Mitten in einem Livingstone-Afrika-Kapitel erscheinen Livingstones englische Jugend und frühere Expeditionen; mitten in Afrika lässt Dugard Stanley ins Fieberdelirium fallen und füllt die Auszeit mit Seiten über Stanleys unerfreuliche englische Kindheit und Adoleszenz. So entstehen stückweise fast vollständige Livingstone- und Stanley-Biografien, zumindest bis zum Ende von Stanleys Livingstone-Mission; Stanleys Leben nach Livingstones Bestattung bekommt nur noch eine Seite (also auch nichts über die Emin-Pascha-Rettung).

Die erzählte Hauptzeit schildert Dugard im Past Tense – er verzichtet also auf das hektischere, dramatisierende Present Tense. Die Rückblenden auf die Jugend haben dann auch Past Tense; sollte Dugard hier nicht mindestens den Einstieg in die Rückblende im Past Perfect schreiben? Nach meiner Übersicht gibt es gar kein Past Perfect. Dabei schafft das Past Perfect, ebenso wie das weltweit diskriminierte Semikolon, Übersicht und Diversität in langen Texten.

Cliffhanger:

Der Verlag nennt es aufdringlich “the dramatic retelling of the Stanley-Livingstone story”. Auf seiner Webseite erklärt Dugard, er habe zehn Buchfassungen abliefern müssen, bis die Geschichte rund war:

My patient editor at the time, Jason Kaufman, pushed me through ten drafts in order to get the best possible story on the page.

Gern verwendet Dugard dafür altbackene Cliffhanger und dramatische Andeutungen (S. 62):

In the coming months, all of Britain would mourn Livingstone’s decision.

Und dann erstmal neues Kapitel und Themenwechsel. Fragen über Fragen, der Leser hängt am Haken. Oder (S. 221):

Livingstone assumend that neither he, nor the people of Nyangwe, were in any danger. He was wrong.

Alsdann neues Kapitel, anderes Thema. Und die Fortsetzung erscheint erst auf Seite 258 mit der schönen Überschrift: “The Massacre”.

Dugard stützt sich häufig auf Primärquellen wie Stanleys Tagebuch. Zwar zieht er Stanleys Tagebuch seinen veröffentlichten Expeditionsbüchern vor, dennoch weckt die Quelle kein großes Vertrauen.

Stilfragen:

Dugards Buch erhielt Lob u.a. von Kirkus Reviews und Publishers Weekly. Die Durchschnittswertung auf Goodreads erreicht relativ hohe 4,07 von 5 Sternen (Stand August 2019, 5134 Stimmen). Heftige Kritik gab’s aber im New Yorker: Dugards Stil sei abgeschmackt, neuere Forschung werde ignoriert.

Auch mir stieß der Stil teils auf. Dugard schrieb u.a. etliche Bücher gemeinsam mit dem Ex-Fox-News-Mann Bill O’Reilly, die alle mit dem schönen Wort “Killing” beginnen. Dieser Vorgang beschäftigt ihn auch beim Livingstone-Stanley-Thema – auch dann, wenn er nur unwichtige Randfiguren oder Gedankenspiele betrifft. Spritzt irgendwo Blut, wird ein Mensch verzehrt, auch fern der Hauptfiguren, dann haut Dugard lustvoll in die Tasten (so wie die widerlichen zweiminütigen ARD-Tatort-Vorschauen nur Angst, Mord und zerstörte Körper zeigen).

Sex + crime:

Ein paar blutrünstige Dugard-Beispiele:

  • eigentlich unwichtig an der Stelle, aber Dugard kann nicht einhalten (S. 71), “colonists who were killed by thick wooden stakes driven into their hearts via their rectums”
  • über Kannibalen, die ausdrücklich keine Bedrohung darstellten (S. 220): “bodies were not cooked before eating, but… “
  • über andere Kannibalen: “the cannibals would happily soak Livingstone’s body in water until tender, then make a meal of Britain’s brave, beloved, overdue explorer” (S. 26n, zudem ein Beispiel für die Dugard manchmal vorgeworfenen Adjektivhuberei)
  • auch die Rückblende über Stanley im US-Bürgerkrieg schildert weniger dessen Flexi-Loyalität als brutale Todesszenen (S. 230): “a bullet had gored his whole face… ghastly white face”
  • Araber vs. Schwarzafrikaner: “calmly aiming and firing, then reloading quickly so as not to miss the opportunity to kill again” (S. 261)
  • wieder und wieder erzählt Dugard davon, wie ein Löwe sich in Livingstones Arm verbiss – 1843, Jahrzehnte vor der Haupthandlung

Während Dugard lustvoll schnalzend ausmalt, wie Stanley seine Untergebenen peitscht und demütigt, sagt er über Livingstone nur, der erreiche “more through kindness than Stanley had through rage” (S. 339) – aber er liefert kein einziges konkretes Beispiel für Livingstones Diplomatie, das fetzt wohl weniger.

Nicht nur crime, auch sex erregt den US-Erzähler Dugard. Zwar hätte er da bei den Entdeckern Burton oder Baker mehr zu berichten, aber das bisschen, was sich über die eher keuschen Hauptfiguren Livingstone und Stanley sagen lässt, notiert Dugard atemlos und überflüssig (so wie Paul Theroux in Reiseberichten und Reiseberichtvorworten Derartiges ausweidet):

  • So über Frauenkenner und Entdecker Richard Francis Burton: Der Tanganyika-See sei “slender and vertical on the map, like a womb parting to give birth to the great Nile”. Dies passe zu Burton, “for his character tics veered towards the sensual” (S. 33). Bei solchen Vergleichen fragt man sich, welche “character tics” Martin Dugard sein eigen nennt
  • Stanley fülle sein Tagebuch mit “lust and want. He burned with desire for the local women” (S. 251)

Aber manchmal verblüfft Dugard einfach nur:

  • Der Nil sei schlicht Wasser, “two hydrogen molecules bonding with a single oxygen molecule in the bowels of the earth” (S. 36).

Storytelling voll unerwarteter Momente.

Zur engl. Bantam-Ausgabe:

Meine Bantam-TB-Ausgabe zeigt nur wenige kleine SW-Fotos und eine doppelseitige, aber sehr unübersichtliche und unscharfe, weil grob gerasterte SW-Karte. Dabei wäre eine gute Karte bei den verschlungenen Wegen Livingstones und Stanleys so wichtig gewesen, und Platz und Drucktechnik hätten Besseres erlaubt. Dugard beschreibt Livingstones Handschrift und das Seitenbild mit Blut- und Schweißflecken – zu sehen bekommt der Leser das aber nicht, ebenso wenig wie Stanleys lukrative Artikel für den New York Herald als Faksimile oder Zitat im Lauftext.

Meine Ausgabe zeigt keine Synopse, keine Zeittafel und keine hochgestellten Ziffern, die auf Fuß- oder Endnoten und auf Belege für einzelne Behauptungen verweisen. Es gibt nur pro Kapitel ein paar allgemeine Quellenangaben.

Meine 2004er-TB-Ausgabe des Bantam-Verlags hat:

  • Haupttext: ca. 368 Seiten
  • Anhang (Bibliografie, knappste Quellenangaben, doppels. SW-Landkarte): ca. 25 weitere Seiten
  • Gesamtseiten lt. Paginierung: ca. 411
  • Fotos: sehr wenige auf Textdruckpapier an Kapitelanfängen (mäßige Repro-Qualität)

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