Autobiografie: Little Wilson and Big God, von Anthony Burgess (1986) – 6 Sterne

Gleich auf den ersten Seiten bringt Burgess ein paar drastisch ordinäre Witze – ein Vierzeiler kombiniert Pädophilie, Nekrophilie und gleichgeschlechtlichen Sex. Auf den weiteren 440 Seiten kommen dann regelmäßig deftige Schocker, vorgetragen mit präpubertärem Stolz, wenn auch nicht mehr mit der Dichte des Einstiegs.

Seitensprünge und Katholizismus:

Seine augenzwinkernde Vulgarität kontert Anthony Burgess – der diesen ersten Teil seiner Memoiren als Endfünziger schrieb – mit viel gelehrtem Diskurs. Dichtung, Musik, Geschichte, Sprachwissenschaft: der offenbar schon als Teenager rundum humanistisch Gebildete bringt interessante und verblüffende Einsichten und Themenkombinationen; einen Absatz später reißt er Kellnerinnen auf, schildert die Sauftouren seines Vaters oder die endlosen eigenen Seitensprünge und die seiner Frau, um gleich wieder Katholisches zu debattieren.

Mitunter wirken die wissenschaftlichen Exkurse langatmig; das gilt erst recht für die religiösen Traktate zum Thema Katholizismus-Protestantismus-Judentum und Burgess’ chronisches, breit dargelegtes Leiden am Katholischsein (sündigt er mit einer erfolgreich aufgerissenen Kellnerin, geht er anderntags zur Beichte, sucht aber einen möglichst verständnisvollen Geistlichen auf, selbst wenn er gar nicht ans Beichten glaubt). Später im Buch nimmt das Frauenaufreißen überhand, der Katholizismus wird weniger.

Frater und Padres:

Burgess plaudert virtuos mit vielen hochgelehrten Fremdwörtern und doch kurzweilig. Oft wirkt das Erzählen ein bisschen ziellos, dann aber folgt eine elegante Überleitung zum nächsten Thema und ältere, scheinbar unwichtige Motive tauchen wieder auf oder erhalten erst bei ihrer Wiederkehr die endgültige Bedeutung.

Dabei produziert Burgess reihenweise Anekdoten, Gedichtzeilen, historische Ãœberschriften, Eigen- und Straßennamen – ob er die alle wirklich noch im Gedächtnis hatte? Viele Skurrilitäten aus dem Manchester der 20er und 30er Jahre sind darunter, dann die zunächst sehr rauhe militärische Grundausbildung zu Beginn des zweiten Weltkriegs. Burgess wuchs nicht priviligiert auf, er schildert die Zumutungen und das ärmliche Leben trocken, selbstmitleidlos und mit einigen skurrilen Anekdoten.

Meine Penguin-Taschenbuchausgabe hat etwa 450 Seiten plus zehn Seiten Index. Bei Seite 170 ist Burgess noch immer nicht volljährig. Ich persönlich hätte lieber mehr von den ersten Berufsjahren und der Malay(si)a-Zeit und etwas weniger vom katholischen College gelesen, aber dort lernen wir jeden Frater und Pater kennen.

Stark autobiografische Romane lieferte Anthony Burgess mit Devil of a State (Brunei-Zeit auf Ostafrika übertragen), The Long Day Wanes (Malay(si)a) und Der Mann am Klavier (engl. The Pianoplayers, arme Kindheit in England). Andrew Biswell schrieb eine wohlwollende Burgess-Biografie.

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