Kritik Biografie: Rudolf Augstein, von Peter Merseburger (2007) – 6/10

Dies ist keine Biografie. Dies ist eine episodische bundesdeutsche Zeitgeschichte mit gelegentlichen Schwenks auf Rudolf Augsteins einschlägige Leitartikel, Briefe und Vorträge. Tiefschürfend am Thema vorbei recherchiert.

Über Augstein sagt Peter Merseburger, er habe sich

zeitlebens mehr für Männer, die Geschichte machen, interessiert als für die strukturelle Seite der Historie

Über Merseburgers Augstein-Buch sagt Hans D. Blog: Merseburger interessiert sich mehr für die strukturelle Seite der Historie und weniger für Männer, die Geschichte oder Medien machen.

Der Mensch und Praktiker Augstein erscheint kaum. Merseburger, ab 1960 selbst 5 Jahre beim Spiegel, will  nicht so sehr Fakten vermitteln, es klingt eher nach Raunen über dem Leser schon bekannte biografische und historische Daten.

Spiegelartikel aus den 1940er und 1950er Jahren über die Nazizeit triggern bei Merseburger lange historische Debatten über versprengte C-Nazis in der BRD, Wiederbewaffnung, Westintegration und Was-wäre-wenn. Man erfährt viel über deutsche Geschichte samt bizarrer Randaspekte und wenig über Rudolf Augstein (1923 – 2002).

Erst nach rund 200 Seiten erreichen wir das Jahr 1962 mit der Spiegelaffäre, nicht ohne viele Seiten über das Verhältnis Augstein-Adenauer, Augstein-Strauß. Das führt zu langen Absätzen, die z.B. so beginnen:

Ein zweites Mal spielt Adenauer mit dem Gedanken an einen Weststaat, als die Kommunisten 1923 den „deutschen Oktober“ planen, die Rechtsextremen in Bayern zum Putsch gegen Berlin blasen und das Reich in eine Krise gerät, die viele um seinen Fortbestand bangen lässt. Weil die Regierung Stresemann nicht weiß, wie es ((sic)) die Rheinlande…

1923? Augstein? Auch der sehr ausführliche Bildteil zeigt vor allem lang bekannte Fotos von Augstein und anderen, oft von dpa oder Spiegel-Fotografen; wenig privates Bildmaterial.

Ungefähr 1972, noch vor dem Rücktritt Willy Brandts, endet die vage Chronologie, und es gibt nur noch Streiflichter bis ins Jahr 2001, vor allem allgemeine Erörterungen, zum Beispiel zu Israel-Palästina, Antisemitismusverdacht gegen Augstein, Historikerstreit, Nachrüstungsbeschluss, Wiedervereinigung.

Ein eigenes Kapitel behandelt Augsteins historische Bücher und Artikel über Friedrich II., Hitler, Jesus, Bismarck, Stalin – doch von den Enthüllungen zu Flick, Neue Heimat oder vom ersten Aids-Titel hören wir kaum.

Unwichtige Frauen:

Nur die erste Hälfte des Kapitels „Persönliche und publizistische Ausbruchsversuche”(ja, Koppel-s) widmet Merseburger betont flüchtig Augsteins Frauenbeziehungen, und pro Ehefrau zeigt das Buch ungefähr ein Foto; im selben Kapitel geht es  bald schon wieder um andere Bande: “eine Ehe mit der SPD“. Viel später erhalten einzelne Frauen noch ein paar Zeilen.

Augsteins interessante Kinder von Maria Carlsson, Franziska und Jakob Augstein, erscheinen gar nicht außer als mögliche Erbfolger in der Chefetage (und Merseburger erwähnt sie im Dankwort als Gesprächspartner), wenig mehr gibt’s über Maria Sabine Augstein. Auch über den tatsächlichen Vater von Jakob Augstein, veröffentlicht 2009, sagt diese Biografie von 2007 natürlich nichts. (Merseburger hatte deutlich mehr Quellenzugang als vorherige Biografen, ist Leuchtturmpreisträger des Netzwerks Recherche 2008 und flicht neue Erkenntnisse sehr unaufdringlich ein.)

Über mögliche Nazimitarbeiter in den ersten zehn Spiegeljahren redet Peter Merseburger sehr ausführlich. Er weist dem frühen Spiegel akribisch latenten Antisemitismus und dann Solidarität mit Juden nach.

Der Autor diskutiert endlos Augsteins Leitartikel unter Pseudonymen, und er diskutiert die Bedeutung des Pseudonyms Jens Daniel – aber warum Augstein Pseudonyme verwendete und später ablegte, wie er seine Redaktion organisierte, die investigativen Recherchen und die Dokumentation, davon kein Wort. Gab es weitere Meinungsschreiber im Spiegel, was schrieben andere Blätter – Merseburger sagt es nicht.

Sprache:

Was sind Fouché, Pollux, eine ultramontane Partei, die Hallsteindoktrin, was “Jean Jacques ((sic)) Rousseaus volonté generale“, was steht in

Adenauers berühmtem Interview mit dem Cleveland Plain Dealer

Der Leser weiß es, weiß Merseburger.

Merseburger schreibt etwas betulich, mit Streichfähigem wie Verallgemeinerungen, rhetorischen Fragen, verstörendem historischen Präsens…:

Wahrscheinlich beginnt seine Alkoholkrankheit nach seinem Rückzug von Bonn nach Hamburg und verschlimmerte ((sic)) sich, als die Ehe mit seiner vierten Frau in die Brüche geht

… und wunderlichem Futur:

…in dem von Laves gebauten Opernhaus wird unverdrossen die „Fledermaus“ gespielt. Drei Tage später wird sich das Einheitsbrot schon auf 150 Milliarden, ein helles Brot gar auf 160 Milliarden verteuert haben. Frankreich hält das Ruhrgebiet besetzt…

Man meint, er wolle beständig den Lesefluss bremsen mit 72-Wort-Sätzen wie (Seite 66):

Weil sie in ihrer Zone zunächst das Erscheinen aller deutschen Zeitungen verboten hatten, gibt es auch in Hannover – bis zur Vergabe der ersten Lizenz an die sozialdemokratische Hannoversche Presse im Juli 1946 – nur Blätter der britischen Militärregierung, deren politischer Teil zunächst fast ausschließlich Botschaften des Oberbefehlshabers Montgomery an die Bevölkerung, Bekanntmachungen der Besatzungsmacht und Nachrichten britischer Agenturen enthält, die Rasche und sein Adlatus ins Blatt zu heben und zu umbrechen haben.

Übliche Tippfehler sah ich kaum (jedoch „Hans Detlef Becker“, sic, Seite 334), doch wiederholt vermisste ich Anführungszeichen. Gelegentlich schreibt Merseburger im Lauftext „bis heute“ oder „heute noch“– ein no-no in Geschichtsbüchern; was „heute“ ist, bleibt unklar, speziell bei einem Text im historischen Präsens. Mitunter verwendet Merseburger klebriges Dativ-e (u.a. mehrfach „im Kriege“).

Meine Pantheon-Taschenbuchausgabe hat keine systematischen Quellenangaben mit Endnoten und nur wenige Seiten Anhang mit Literaturliste, Dankwort und Personenregister.

Assoziation:

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