Als ich Mali Blues im Frühjahr 2010 bestellte, meldete Amazon als Erscheinungsdatum 2000. Das Buch selbst beginnt aber mit der Spitzmarke “Dakar, 16. Juni 1993“. Wenn ich das gewusst hätte.
Das Buch zerfällt in zwei Teile:
Auch wenn es nicht so gekennzeichnet ist, zerfällt Mali Blues in zwei sehr unterschiedliche Teile, die aus je zwei Kapiteln bestehen:
- Transit in Senegal und Mauretanien
- Begegnungen in Mali
Die ersten beiden, mit je rund 50 Seiten kürzeren Kapiteln über Senegal und Mauretanien sind besonders oberflächlich, es ist reine Durchreise mit ein paar Einheimischen, die über schlechten Fernsehempfang jammern. Im Nachhinein wirken diese Kapitel wie Füllmaterial, das zusammen mit den zwei längeren und deutlich interessanteren Mali-Kapiteln zur geplanten Buchlänge verhelfen soll.
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Vergleich mit V.S. Naipaul:
Autorin Lieve Joris (bei Amazon derzeit als “Liebe Joris” gelistet) zitiert im Buch V.S. Naipaul, hat den Meisterschreiber auf Trinidad besucht und darüber geschrieben. Und ich beging den Fehler, vor Joris einige Afrika-orientierte Bücher Naipauls zu lesen, etwa An der Biegung des großen Flusses, Ein halbes Leben und In einem freien Land.
Nach Naipaul – dessen Romane auf einer Ebene wie intensive Reiseberichte wirken – ist Joris ein Absturz: Ihre Schilderungen im ersten Teil erscheinen so viel oberflächlicher, touristischer, belangloser. Da gibt es nur die strahlenden Augen beschenkter Kinder oder den salzigen Geschmack roher Muscheln.
Und Joris bemüht sich in Mauretanien und speziell Senegal nicht, etwas Besonderes herauszufinden, Schicksalen oder Geschichten nachzuspüren. Sie beschreibt platt das, was ihr zufällig widerfährt oder erzählt wird, und schon sitzt sie im nächsten Buschtaxi. Diese Gegenden und Menschen interessieren sie eindeutig weniger.
Zu wenig Beobachtung, zu viel Wertung:
Während Naipaul sich selbst als Person weit zurücknimmt, kippt Joris neben einige Schilderungen gleich noch eine belanglose Bewertung. Zwei Beispiele:
- Bekannte in Mali erzählen, wie sie früher die Hauskatzen der französischen Kolonialbeamten fingen, grillten und aßen – zartes Fleisch, “vor allem der Hintern”. So weit, so amüsant, doch Joris muss noch einen ganzen, missfallenden Absatz über verwöhnte Europäer-Katzen dranhängen und begrüßt das Ende der Franzosen-Katzen am Barbecue-Spieß mit klammheimlicher Billigung: “Inzwischen empfinde ich auch ein wenig Schadenfreude.” Oder:
- Ihr weißer Ex in Dakar hat ein paar Hausdiener. Statt mehr über die Angestellten zu erzählen, jammert Joris lediglich: “Und ich leiste mir in Amsterdam nur alle zwei Wochen eine Putzfrau, es behagt mir nicht.”
Darum stimmt auch die Einstufung nicht, Joris schreibe emotionslos ohne Wertung. Ihre Wertung ist nur so belanglos, dass jeder Lektor mit Statur ein Deleatur an das Gewäsch von Putzfrauen aus Amsterdam gemalt hätte. Bemerkenswert: Joris bringt reihenweise Beispiele von haarsträubendem Aberglauben, hält sich hier aber mit Einstufungen zurück.
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Bedenken bei der Ãœbersetzung:
Das Buch ist zudem oft lieblos-mechanisch ins Deutsche übersetzt. Zwei Beispiele:
- “die Stadt atmet eine große postkoloniale Tristheit aus”;
- “Abderrahmanes Einübung in eine andere, größere Welt erfolgte früh”.
Ob bereits die niederländische Fassung uninspiriert geschrieben war, weiß ich nicht.
Joris reist durch viele Städte und mehrere Länder, aber das Buch zeigt keine Fotos und nur eine einzige, rudimentäre Kartenskizze des riesigen Reisegebiets. Die eine Seite Glossar im Anhang erklärt Boubou und Gris-Gris, aber viele weitere Begriffe tauchen im Bericht völlig unkommentiert auf, etwa Speisen oder Kleidungsstücke. Komplette französische Sätze erscheinen ohne Übersetzung.
Gelesen hab’ ich’s trotzdem:
Dennoch habe ich mich von Joris’ Bericht aus Westafrika schnell einlullen lassen. Sie schreibt vor allem zu Anfang so unmittelbar, unreflektiert, immer geht es zu einem neuen Strand, Konzert, Café, Bekannten, Bekannten von Bekannten – ich konnte es runterkonsumieren wie einen geschmacksneutralen, folienversiegelten Beilegkeks und nebenbei ein paar Eindrücke aus Westafrika mitnehmen. So war ich selbst im ersten, schwächeren Teil schon bereit, bis zu Ende zu lesen.
Doch in Mali wird alles besser – das Personal, und das Buch. In Mali hält sich Joris an Künstler und deren Familien, zeigt mehr Sympathie und Neugier. So zieht sie mit Boubacar Traoré (“Kar Kar”) um die Häuser, der im Weltmusikboom seit den 90ern eine zweite Blüte erlebte, auch in Mali bekannt ist und dessen gefühlvolle Musik sich ohne weiteres online finden lässt.
Dies ist der persönlichste, intensivste Buchteil. Man spürt die Anziehung zwischen Autorin und Darsteller und wüsste gern, ob Joris hier noch verschwiegen hat.
Begegnungen in Mali:
Außerdem besucht Joris in Mali an verschiedenen Orten die ausgedehnte Familie des Filmemachers Abderrahmane Sissako, dessen Weltbank-kritischer Streifen “Bamako” 2010 zu sehen war. Joris hatte Sissako in Paris kennengelernt, in Mali trifft sie die Verwandtschaft.
Das sind nette, wenn auch teils oberflächliche Portraits von oft eigenwilligen bis kauzigen Maliern mit gelegentlich netten Apercus. Der Dorftelefonist Bina über ein entlaufenes Zicklein: Es wollte zu früh unabhängig sein, wie die afrikanischen Staaten.
Tipps für die Reise gibt es nicht:
Ideen für die Reiseplanung des Lesers liefert Joris nicht. Sie konzentriert sich ganz auf ihr Personal, verzichtet auf allgemeine Erklärungen, Tipps zu Essen oder Transportmitteln. Joris umgeht Touristenziele (in Malis berühmtem Dogonland verbringt sie zufällig ein paar Stunden), sondern besucht die entlegenen Heimatdörfer der Portraitierten.
Joris tut dabei fortwährend so, als sei eine alleinreisende Europäerin im moslemischen Westafrika völlig normal; sie erwähnt auf 311 Seiten nicht einen einzigen unangenehmen Moment. Wir erfahren lediglich, dass Frauen in ihrem Reisegebiet sonst kaum eine Rolle spielen – außer in der Küche. Joris’ Hauptgesprächspartner und Gastgeber sind stets Männer, die mitunter mehrere Frauen haben.
Zu diesen letzten Punkten gibt die Autorin ausnahmsweise keinen Kommentar.
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