Krimikritik: Maigret zögert, von Georges Simenon (1968) – 6/10

Das ist behagliche Maigret-Unterhaltung in gehobenen Kreisen von Paris, wenn auch mit Konstruktionsmängeln. Atmosphäre und Dialoge überzeugen.

Viel- und Meisterschreiber Georges Simenon (1903 – 1989) überzeugt nicht mit allen Entscheidungen:

1) Show, don’t tell, diesen Grundsatz vergaß Simenon: das komplizierte Verhältnis der Familien Parendon und Gassin de Beaulieu lernen wir nicht bei Familientreffen kennen; stattdessen referiert Sekretärin Vague indiskret alle Konstellationen in einem langen Gespräch mit Maigret; die vielen Schwestern und Eingeheirateten lassen sich kaum auseinanderhalten

2) auf Seite 116 möchte Maigret aus Ermittlungsgründen mit einem Arzt sprechen, setzt sich ins Wartezimmer und geht unverrichteter Dinge wieder, um andere Wartende nicht aufzuhalten. Auf Seite 117 verzichtet er auf einen anderen Arztbesuch aus Ermittlungsgründen, denn er wusste

durch seinen Freund Pardon nur zu genau, wie es bei Pariser Ärzten zuging.

Wenn das so ist, hätte er auf Seite 116 gar nicht zum ersten Arzt gehen dürfen. Und wenn er dort so schnell wieder aufgibt und sich nicht vordrängeln mag, ist der Sinn des Besuchs eh fraglich

3) völlig unverständlich zudem, warum Hauptkommissar Maigret den dubiosen Brief nicht mit  Handschriftproben der Verdächtigen abgleicht. Dass auf Fingerabdrücke untersucht wurde, erfahren wir erst im Nachhinein, nachdem der Leser eine solche Maßnahme lange vermisst hatte. Simenon flicht die Fingerabdruckprobe ein wie einen nachträglichen Gedanken

4) nach dem Mord werden Leiche und Tatort offenbar nicht nach Fingerabdrücken abgesucht; und falls doch, von den Fingerabdrücken ist später nie die Rede

5) der anonyme Briefschreiber kommt schließlich ans Licht; sein Motiv eher nicht.

6) ein Mord wird angekündigt, Maigret ermittelt vorsorglich, der Mord geschieht trotzdem – ist das wünschenswert, edel, hilfreich und gut?

7) man könnte den ganzen Fall herbeigezogen finden: ein anonymer Schreiber droht ein Unglück an, weiß aber, dass der Ursprung des Schreibens leicht zu finden ist – comment? Zu schweigen von der bizarr dysfunktionalen Familie Parendon und dem inkonsequenten Umgang mit der Bedrohung durch Familie und Polizei (was den Plot am Köcheln hält)

Schlafen Sie mit Ihrem Chef?

In diesem Roman ist die Welt noch in Ordnung: Madame Maigret tut brav – und von Herzen gern -, was ihr Mann dekretiert. Der pichelt in diesem Roman auffallend oft Alkoholisches allein – in Bars oder an Tatorten –, selbst wenn Madame zu Hause wartet.

Und er darf Anwaltssekretärin Mademoiselle Vague

”…noch eine andere indiskrete Frage stellen. Schlafen Sie mit Monsieur Parendon ((ihrem Chef))?”

Liegt ja auch nah. Bald drauf – auch naheliegend? – kommt Anwaltsgattin Madame Parendon dran:

”Schlafen Sie noch miteinander?”

Und, genauso naheliegend:

”Hatten Sie Liebhaber?”

Keine Sensitivity-Schnepfe entsorgt solch Übergriffigkeit eines alten weißen Pfeifenmanns?

Besonders von Eheknackerin Mademoiselle Vague ist Hauptkommissar Maigret angetan:

Sie war ihm sympathisch gewesen. Wie offen und ehrlich sie über die Beziehung zu ihrem Chef gesprochen hatte! Er hatte gespürt, dass sie mit leidenschaftlicher Treue zu ihm hielt, trotz des großen Altersunterschieds. War das nicht eine der wahrhaftigsten Formen der Liebe?

Kritischer sieht Maigret die Parendon-Tochter “Bambi”: Sie

war nicht schön, hatte aber ein hübsches Gesicht und eine gute Figur.

Wenigstens etwas.

Sprache:

Die Übersetzung in meiner 2019er Atlantik-Ausgabe stammt von Hansjürgen Wille und Barbara Klau, sie wurde laut Verlag “von Astrid Roth grundlegend überarbeitet”. Die Eindeutschung klingt durchgehend unaufdringlich gut, klar besser als viele ältere Simenon-Ausgaben. Es gibt eine separate Übersetzung von Annerose Melter im Diogenes-Verlag.

Kapitel 3 auf Seite 69 beginnt mit einem großen “i” als Initial, das steht da wie eine ausgehungerte Schneeleitstange in der Landschaft, das macht man nicht.

Auf Seite 180 steht:

”Ich wollte herauszufinden…”

Assoziation:

  • Maigret amüsiert sich hat eine ähnlich plüschige Pariser Oberschicht-Atmosphäre mit Ärzten, Auszeit an der Côte d’Azur und schönen Altbauresidenzen
  • Das aufdringliche Wiederholen des Artikels 64 – “wenn sich der Angeklagte zur Zeit der Tat in einem Zustande von Verwirrtheit befand” – erinnert an Simenons Nicht-Maigret Die Witwe Couderc (1942), in dem ein Paragraph zur Todesstrafe ermüdend wiederholt wird
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