Belletristik

Rezension Schweiz-Roman: Die toten Männer, von Lukas Bärfuss (2002) – 7 Sterne

Der Ich-Erzähler schwärmt von einer Welt ohne Liebe und bevorzugt behelfsweise „Liebe ohne Gefühle“ wie bei seiner alten Mutter, die er sich gut in Edelstahlausführung vorstellen kann. Mit leicht abstrusen, aber genau geschilderten und auch etwas faszinierenden Gedanken will der EQ-Autist sich von allen und jedem distanzieren, verstrickt sich aber nur immer mehr mit seiner…

Satirischer Diplomaten-Roman rezensiert: Unser Mann in Afrika, von William Boyd (1981) – 7 Sterne

Zeitweise war ich mir nicht sicher: Ist der Autor so pubertär, oder nur seine Hauptfigur? Die niederen Gelüste des Morgan Leafy bekommen viele Zeilen in diesem Westafrika-Roman, unangenehm viele, und gelegentlich geht es sogar saftig ins Urologische – kein guter Lesestoff beim Frühstück, aber ein Anlass, bestimmte venerische Komplikationen einmal nachzuschlagen. Dann noch derbe, schnell…

Rezension Indien-Roman: Mister Alis Hochzeitsagentur für hoffnungslose Fälle – The Marriage Bureau for Rich People, von Farahad Zama (2008) – 7 Sterne

Behagliche Bürgergemütlichkeit in Visakhapatnam (Vizag), Andhra Pradesh, Indien: Das Rentner-Ehepaar Herr und Frau Ali eröffnet zu Hause eine Heiratsvermittlung, damit Staatsdiener a.D. Herr Ali die Gemahlin nicht immer bei der Hausarbeit stört. Mit viel Witz und etwas Schlitzohrigkeit verfügen die Alis schon bald über eine gut gefüllte Interessentenkartei. Besonders gut gehen gleich zu Beginn Mitglieder…

Roman-Kritik Ruanda-Genozid: Hundert Tage, von Lukas Bärfuss (2010) – 7 Sterne

Eine explosive Mischung aus Völkermord, körperlicher Liebe, Entwicklungspolitik, Obsession, Afrika, Schuld, innerafrikanischem Rassismus, Gräueln, Blut, Verantwortung, Tierliebe, Gewissenskonflikten, Aids: Sex & Crime maximal, und den zweiten Buchteil sollten Sensible nicht beim Essen lesen. Im Absurdistan der Entwicklungshilfe: Gleich am Anfang wird erwähnt, dass dieser Roman in die Katastrophe schlittert, dass Hauptfiguren leiden werden, aber es…

Rezension deutsche Erzählung: Schweigeminute, von Siegfried Lenz (2008) – 7 Sterne – mit Video

Siegfried Lenz erzählt hauchzart eine Sommerliebe an der Ostsee, nur ein Sommer, zwischen Schüler und junger Lehrerin, vor einigen Jahrzehnten schon. Das Ende erfährt man gleich zu Beginn und Siegfried Lenz wechselt immer wieder die Zeitebene. Lenz, bei der Niederschrift über 80, erzählt in seiner ersten Liebesgeschichte betont behutsam, achtsam, rücksichtsvoll. Mitunter wirkt er dabei…

Romankritik Westafrika-Krimi: Instruments of Darkness, von Robert Wilson (1995, Teil 1 der Bruce Medway-Reihe) – 7 Sterne

Robert Wilson ist besonders bekannt für seine Javier Falcón-Krimis aus Südeuropa, die ab 1999 erschienen und auch ins Deutsche übersetzt wurden. Zuvor schrieb Wilson allerdings vier Krimis über Bruce Medway in Westafrika, die weniger Leser haben. Diese Westafrika-Reihe beginnt mit Instruments of Darkness. Was mir an Instruments of Darkness gefiel: Hochatmosphärisch. Jeder stinkende Hinterhof, jede…

Rezension Trinidad-Roman: Wahlkampf auf karibisch – Oder: Eine Hand wäscht die andere, von V.S. Naipaul (1958, engl. The Suffrage of Elvira) – 7 Sterne

Das groteske Wahlkampfspektakel im hinterwäldlerischen Inland von Trinidad bringt Geldgier, Aberglaube, Standesdünkel und Machtpoker zum Vorschein. Das übliche Demokratieverständnis wird parodiert; so erklärt Harichand, der örtliche Druckunternehmer, ganz ernst: Demokratie ist, wenn ich an den Druckaufträgen der Parteien verdiene (ein ähnliches Motiv kehrt wieder in einem Indonesien-Roman von Ratih KumalaIndonesien-Roman von Ratih Kumala). Fast wie…

Rezension Theater-Farce: Noises off, von Michael Frayn (1982, dt. Der nackte Wahnsinn) – 7 Sterne

Theaterstücke gedruckt sind per se kein reines Lesevergnügen und dieses von 1982 vielleicht noch weniger als andere. Alle Figuren erscheinen mit zwei verschiedenen Namen im Text: So heißt eine Schauspielerin der Rahmenhandlung Belinda, doch im Stück im Stück spielt sie eine Flavia. Je nachdem, ob sich die Figur innerhalb oder außerhalb des Stücks im Stück…

Rezension Sierra-Leone-Roman: Das Herz aller Dinge, von Graham Greene (1948) – 7 Sterne

Dichte, intensive Geschichte um einen ehrlichen, englischen, katholischen Polizisten im Sierra Leone der Kolonialzeit. Er gerät in Gewissensnöte und weiß keinen Ausweg mehr. Gut konstruiert – oder schon zu ausgedacht? Dazu ein paar sehr trockene, coole Dialoge. Amazon-Werbelinks: Ganz Afrika | Südafrika | Kenia | Marokko Der katholische Aspekt wird mir gegen Ende zu stark;…

Roman-Kritik Chinesen in England: Sour Sweet, von Timothy Mo (1982) – 7 Sterne

Gefühlt 65 Prozent des Buchs von 1982 widmet Mo einer Hongkong-chinesischen Kleinfamilie, die sich mit einer Imbissbude eine Existenz im ärmeren Teil Londons aufbaut – unterhaltsam, einfühlsam und mit trockenem Humor, dazu verblüffende Einblicke und Begegnungen. Es klingt, als sei Mo selbst dabei gewesen und hätte doch die nötige Distanz, die Entwicklung allgemeinverständlich und Roman-tauglich…

Rezension zynischer Kriegsroman: Catch-22, von Joseph Heller (1961) -7 Sterne

Zynischer Roman über eine US-Fliegerstation in Italien gegen Ende des zweiten Weltkriegs (dt. und engl. Titel Catch-22). Die Absurdität des Kriegs wird in vielen Facetten durchgespielt – meist nicht im Kampf, sondern im Fliegerhorst oder bei Ausflügen nach Rom. Der Ton ist trocken, nonchalant, sarkastisch, zynisch und unterhaltsam intellektuell. Brillanter Stil: Selten war ein Roman…

Lustiger Roman rezensiert: Adrian Mole und die Achse des Bösen, von Sue Townsend (2006) – 7 Sterne

Und schwups hat man hundert Seiten gelesen, so leicht geht das runter, wenn auch anfänglich weniger lustig. Ab der zweiten Hälfte wird es bitterer, aber gleichzeitig auch humorvoller. Es ist ein Roman auf einer sehr geraden Zeitachse mit einem Kapitel pro Tag; es könnte auch ein normaler Roman sein: das Tagebuchschema spielt, anders als in…

Rezension Miami-Roman: Back to Blood, von Tom Wolfe (2012) – 7 Sterne – mit allen wichtigen dt. & engl. Presse-Links, Hintergründen & Video

Seinen massiven Miami-Roman bevölkert Erfolgsromancier und -journalist Tom Wolfe mit einem ganzen Bestiarium bizarrer Figuren. In den Hauptrollen: ein junger Kuba-stämmiger Polizist, seine junge Latina-Ex, zwischenzeitlich mit einem ebenfalls wichtigen Psychiater für Porno-abhängige Milliardäre liiert, ein paar russische und amerikanische Milliardäre, schwarze Crackdealer, ein junger weißer Journalist mit Yale-Vergangenheit (wie einst Wolfe), der schwarze Polizeichef…

Rezension Kurzgeschichten: Roda Rodas Geschichten (Hg. Gregor von Rezzori) – 7 Sterne

Das sind amüsante Schnurren, ich habe öfter gelacht. Roda Roda schreibt ein knackiges, sehr lesenswertes, charakterstarkes Deutsch, parodiert erheiternd verschiedene Mundarten vor allem aus Kakanien, oft sehr respektlos und politisch unkorrekt. Die Geschichten sind nur eine Drittelseite bis höchstens drei Seiten lang. Sie wirken auch, weil Roda Roda stark verknappt: die Pointen kommen abrupt und…

Rezension Kurzgeschichten: Der Geliebte des dritten Tages, von Gert Heidenreich (1997) – 7 Sterne

Erotische Mysterien steht im Untertitel, aber das realisierte ich erst, als das Büchlein eintraf. Oweh, dachte ich da, sabbernde Altherrenphantasien, das geht in die Hose. Heidenreich dünstet jedoch weniger streng, selbstmitleidig und egozentrisch als andere deutsche Autoren (hallo Herr Treichel). Nonchalant, mild spöttisch produziert Heidenreich ein freundlich dahinplätscherndes Parlando – und sei der Inhalt noch…

Rezension Kautschuk-Roman: Cahuchu, Strom der Tränen, von Vicky Baum (1943) – 7 Sterne

Eindrucksvoller Roman über hunderte Jahre, manchmal zu belehrendJede Episode zum Thema Kautschuk und Industrialisierung hat 50 bis 80 Seiten, die meisten Episoden sind kaum verbunden und spielen – chronologisch angeordnet – in unterschiedlichen Jahrhunderten und Kontinenten, unter anderem in Brasilien, Indonesien, USA, Deutschland und im Krieg in Nordafrika. Die Episoden erzählen von Indios, Unternehmern, Pflanzern,…

Rezension Malaysia-Dorf-Roman: Srengenge: Roman aus Malaysia, von Shanon Ahmad (1973) – 6 Sterne

Thailand

Objektiv… …ist dies sicher ein gutes Buch, das man zudem auch auf Deutsch bekommt. Langsam, aber mit zunehmender Spannung erzählt, mit sehr genauem Einblick ins Dorfleben, in die Motivation der Dörfler, in Glaube und Aberglaube. Auch die Übersetzung hat mir gut gefallen: Nie musste ich überlegen, was der renommierte Autor wohl wirklich gemeint haben könnte.…

Rezension beschauliche Thai-Geschichten: A Busy Week: Tales from Today’s Thailand, von Michael Smithies (1985) – 6 Sterne

Thailand

Unsere kleine Gasse am KhlongSomnuk ist thailändischer Beamter i.R. Gern gießt er seine Blumen – früh am Morgen, wenn es noch nicht zu heiß ist. Somnuk wohnt in einem sehr beschaulichen Bangkok, der Hauptstadt von Thailand. Und in seiner kleinen Gasse am Khlong genießt Somnuk hohes Ansehen: Denn er ist höflich, diplomatisch und hilfsbereit, er…

Rezension Sierra Leone-Bericht: Green Oranges on Lion Mountain, von Emily Joy, fast identisch mit What for Chop Today: Her Mission was to Save Lives, von Gail Haddock bzw. (2001) – 8 Sterne

Himmelschreiend komisch, tragisch, tragikomischDieser Sierra Leone-Bericht erschien fast identisch zweimal mit zwei verschiedenen Titeln und Autorennamen: Zuerst: What for Chop Today: Her Mission Was to Save Lives, von Gail Haddock (das ist ihr richtiger Name) Und dann: Green Oranges on Lion Mountain, von Emily Joy (später erschienen unter Pseudonym, Sierra Leone wird in Lion Mountain…

3 Afrika-Romane in: On the Edge of the Great Rift, von Paul Theroux

Der 1996 erschienene Sammelband On the Edge of the Great Rift enthält drei frühe Afrika-Romane von Paul Theroux, die ich ausführlich jeweils einzeln bespreche: Fong and the Indians, 1968 Girls at Play, 1971 Dschungelliebe, 1971 Hier eine Übersicht über den Sammelband: Die drei Romane des Sammelbands wirken – für den späteren, viel erfolgreicheren Theroux sehr…

Rezension historischer Nigeria-Roman: Okonkwo oder Das Alte stürzt / Alles zerfällt / Things Fall Apart, von Chinua Achebe (1958) –

Deftige Dorf-Erzählung aus dem Nigeria der 1890er JahreSchön erdige, rauh-rustikale, folkloristische Erzählstimme in reichem, teils lebhaft skurrilem Englisch (ich hatte das englische Original Things Fall Apart, der deutsche Titel ist Alles zerfällt oder auch Okonkwo oder Das Alte stürzt). Man hört Achebe fast am Feuer plaudern. Viele unterhaltsame, bauernkluge Sprichwörter, Lebensweisheiten, Metaphern und Geschichtchen aus…

Rezension Trinidad-Inder-Kurzgeschichten: Miguel Street, von V.S. Naipaul (1959) – 9 Sterne

Träge fließt das Leben dahin in der Miguel Street, einem ärmlichen Wohnquartier in Port of Spain, Trinidad. Auf der Straße trifft man immer ein paar Leute, und wenn sie nicht grade schmollen, plauscht man gern: wir treffen Hat, Eddoes, Man-Man, Boyee, Herrn und Frau Bhakcu, das Ehepaar Morgan – regelmäßig begegnen sie in diesen gut…

Rezension Kurzgeschichten: Verbrechen, von Ferdinand von Schirach (2009) – 7 Sterne

Von Schirach erzählt knapp, nüchtern, mild lakonisch, das Gegenteil von geschwätzig. Das liest sich leicht konsumierbar und klingt wohltuend anders als deutsche Prosa sonst. Eine Geschichte dauert nicht länger als 20 Minuten, dann folgt der nächste Mord. Nebenbei liefert von Schirach interessante Blicke hinter die Kulissen von Verbrechen und Verbrechensbekämpfung, die man sonst nur von…