Fazit:
Joseph Conrad konstruiert eine spannende Räuberpistole mit verblüffenden Manövern, starken Dialogen, interkulturellem Großaufgebot und viel Atmosphäre. Er produziert auch langatmigen Schwulst und einen unglaubwürdigen Hassliebesgockel. Verblüffend, dass Conrad die Teile 2 und 3 der Lingard-Trilogie so vergleichbar plottete und konstruierte.
Geschriftstellert:
In seinem historisch zweiten Roman klingt Joseph Conrad (1857 – 1924) deutlich epischer und geschriftstellerter als im Erstling Almayers Luftschloss/Almayers Wahn/Almayer’s Folly. Stark sind neben Plot und Interkultur-Mix vor allem die Dialoge: wie sich Almayer und Willems unwirsch angiften oder die gespreizten Höflichkeiten voll kaschierten Egoismus’ zwischen Malaiien und Arabern. Die Geschichte hat viel dramatisches Potential; sie wurde ja auch vom Spannungsexperten Carol Reed verfilmt.
Allerdings ruiniert Conrad den Plot teils durch weitschweifiges Schwadronieren, innere Monologe und durch seine Rückblendentechnik: Wie im Erstling erzählt er Wichtiges teils in Rückblenden; die Geschichte steuert auf einen dramatischen Höhepunkt zu, dann springt sie plötzlich weiter, der Höhepunkt wird reminisziert. Das ermüdet in der Wiederholung und erscheint als bemühter Kunstgriff, die Spannung hochzuhalten. Ebenso wie der Dreh, einerseits allwissend zu erzählen, plötzlich jedoch so zu tun, als wisse der Erzähler nicht, was zwei mutmaßliche Intriganten flüstern, deren Gedanken wir gerade noch vernommen hatten.
Zu allgemein:
Weitere Dinge gefallen mir nicht. So ist Almayers ungeliebte malaiische Ehefrau offenbar die ganze Zeit im Haus, sie hat aber nicht einen einzigen Auftritt im Roman, sehr unrealistisch.
Gleich zu Beginn hintergeht Hauptfigur Willems seinen Gönner und Chef Hudig folgenschwer, doch die Taten erklärt Joseph Conrad nicht (nur vage allgemein, “he abused that trust… the stupid concourse of circumstances that had driven him into his idiotic indiscretion”, S. 20f). Auch wie Willems auffliegt, erfahren wir nur zusammenfassend (“Lingard disclosed to Willems the exact manner of his undoing”, S. 28). Das gehört jedoch exakt erzählt, Georges Simenon hätte solche Verallgemeinerungen nicht gebraucht.
Eifersüchtig auf den Wind:
Bei aller Atmosphäre: Zu aufdringlich schildert Conrad immer wieder die wuchernde, modernde, alles verschlingende Natur (“air full of heat, odorous and sickly”, S. 218, ganz zu schweigen von verheerenden Wolkenbrüchen und Schlammlawinen).
Die Liebe Willems’ zu Aissa ist völlig übertrieben und generiert Schwulst. S. 54 über Aissas Haar:
the changing glow of liquid metal on her face
Und der schlichte Seefahrer Willems, der wohl schon manche Frau hatte und gerade vom eigenen Ehegespons hinterhältig verjagt wurde, schwelgt unrealistisch über die nächste Holde (S. 70):
To think that she moves, lives, breathes out of my sight. I am jealous of the wind that fans her, of the air she breathes
Wie Willems’ vom intriganten Babalatchi angestachelte Aissa-Sucht schließlich den Schmachtenden ins Verderben führt, das ist lächerlich.
Conradbiograf J.H. Stape verweist in der Einleitung darauf, dass Conrad seine Figur gezielt symbolisch angelegt habe – “at the expense of some psychological realism” (S. xvii). Schade.
Oxford World’s Classics:
Ich las den Roman auf Englisch in der überarbeiteten 2002er-Ausgabe der Oxford World’s Classics. Er wird fantastisch eingeleitet und kommentiert – samt Zeittafel, Landkarte und nautisch-malaiischem Glossar. Die zahlreichen Endnoten verweisen vor allem auf Romane und Sachbücher, die Conrad mutmaßlich inspirierten, u.a. von Richard Francis Burton. Gelegentlich stellen sich die Literaturwissenschaftler selbst ein Bein:
- So weist ein Sternchen auf Seite 282 zur Endnote auf Seite 296; und dort steht dann, man solle die Einführung auf Seite xi lesen;
- und so weist ein Sternchen auf Seite 18 zur Endnote auf Seite 286, die einen lediglich zur Seite 300 im Glossar weiterleitet
Zudem ist das Taschenbuch gut gebunden und sehr leserfreundlich gesetzt – das gönnen uns die Angelsachsen wahrlich nicht immer.
Trotz all der proklamierten Akkuratesse gibt es verblüffende Fehler, u.a. in den Anmerkungen auf S. 290:
Calcutta: (present-day Chennai) ((sic)) the capital of Bengal
Freie Assoziation:
- Viele Bezüge zu Joseph Conrads Almayers Luftschloss bzw. Almayers Wahn (Lingard Teil 3 von 3), aber nicht zu Die Rettung (Lingard Teil 1 von 3)
- Die einsamen weißen Heteromänner in der gnadenlosen Tropenhölle erinnern an Conrads Helden Kurtz
- Conrads malaiische Kurzgeschichte The Lagoon entstand in der selben Zeit wie Outcast of the Islands/Der Verdammte der Inseln und hat viele Gemeinsamkeiten – u.a. das Leben in Booten, die aufdringlich dräuende Natur und das Verderben, das die rasende Liebe zu einer hübschen Asiatin über uns Männer bringt. Conrad selbst sagt in den Anmerkungen zur Geschichtensammlung Tales of Unrest, Outcast und Lagoon seien quasi mit demselben Stift geschrieben. Ein bis zwei vernunftentleerte Liebesgockel gibt’s auch in Conrads früher Kurzgeschichte Karain: A Memory
- Die Bajau-Seenomaden gegen Ende des Romans erscheinen dort weniger friedlich als in dieser TV-Doku
Joseph Conrad auf HansBlog.de:
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spielt ca.* |
HansBlog-Wertung (x von 10) |
Goodreads Wertung (x von 5) (Stimmen)** |
Stil |
Verfilmung |
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Lingard-Trilogie |
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(1898/) 1920 |
Die Rettung (Lingard 1/3) |
The Rescue |
1850er |
3 |
Liebe: völlig unglaubwürdig, blitzartig, Frauenfigur undefiniert Schauplätze: Segelschiff, Meer, Küste Stil: schwülstig Handlung: langsam, unübersichtlich |
--- The Rescue (1929). R Herbert Brenon, mit Ronald Colman, Lili Damita (Wiki) |
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1896 |
Der Verdammte der Inseln (Lingard 2/3) |
An Outcast of the Islands |
1872 |
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Liebe: Beginn glaubwürdig, spätere Besessenheit albern Schauplätze: Dorf und Handelsposten am Flussufer, Fluss Stil: teils pathetisch, teils geschriftstellert, teils ironisch Handlung: teils zügig, teils künstlich verlangsamt |
--- Der Verdammte der Inseln (1951). R Carol Reed, mit Trevor Howard |
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1895 |
Almayers Luftschloss bzw. Almayers Wahn (Lingard 3/3) |
Almayer's Folly |
1887 |
7 |
Liebe: unglaubwürdig, blitzartig, Frauenfigur undefiniert Schauplätze: Dorf und Handelsposten am Flussufer, Fluss (identisch mit Teil 2) Stil: überwiegend trocken, letztes Viertel pathetisch Handlung: zügig (pathetischer und langsamer im letzten Viertel) |
--- La Follia di Almayer | La folie Almayer (1972 o. 1973). R Vittorio Cottafavi, mit Giorgio Albertazzi, Rosemary Dexter --- La folie Almayer (2011). R Chantal Akerman, mit Stanislas Merhar, Aurora Marion |
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Erzählungen |
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1898 |
Geschichten der Unrast (5 Gesch.) |
Tales of Unrest |
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7 |
Liebe: teils blitzartig und mit fatalen Folgen, Frauen unspezifisch Schauplätze: 2x Südostasien, London, Kongo, Bretagne Stil: teils ironisch, teils pathetisch Handlung: überwiegend zügig |
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1912 |
Freya of the Seven Isles |
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7 |
Liebe: nicht blitzartig Schauplatz: südostasiatische Insel-Kolonialwelt Stil: gediegen erzählerisch, teils unheilvoll andeutend Handlung: nicht zu langatmig |
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* Info aus Kommentar zu An Outcast of the Islands, Ausgabe Oxford World’s Classics, 2002, S. 284
**Stand Herbst 2020
Verbindungen innerhalb der Lingard-Trilogie:
Im schwülstigen Teil 1 (Die Rettung, zuletzt fertiggestellt) ist Tom Lingard die Hauptfigur und ein heldenhafter Kapitän; das ganze Buch ist schwer pathetisch. In Teil 2 (Verdammter der Inseln) und vor allem Teil 3 (Almayers Luftschloss) erzählt Conrad nüchterner, und Lingard ist nur eine Nebenfigur, die nicht an den Lingard aus der Rettung erinnert.
Die Teile 2 und 3 haben teils identische Schauplätze, Figuren, Handlungen, man sollte sie hintereinander lesen. Die Hauptfigur ist einmal Willems, einmal Almayer, doch sie zeigen viele Gemeinsamkeiten, u.a. die Ehe mit einer ungeliebten, inkompatiblen Nichtweißen ("A dismal woman!", Der Verdammte S. 11), die auf Druck eines reichen Geschäftsfreunds und Gönners geheiratet wurde. Auch die Erzählweise mit Rückblenden, vielen Teilen und Kapiteln, unterscheidet sich in den Teilen 2 und 3 nicht. Dazu kommen spannende interkulturelle Begegnungen mit Malaiien, Europäern, Arabern, Chinesen.
Alle drei Romane zeigen eine unrealistisch rasend verliebte Hauptfigur – so schwer nachvollziehbar wie in einem verklärten Bollywood-Schinken.