Fazit:
Es klingt, als hätte Joseph Conrad (1857 – 1924) seinen Erstlingsroman schnell rausgehauen, atemlos, seitenlang kein Absatz, kein Dialog, Zeitsprünge, Fokus- und Szenenbrüche, wichtige Aspekte aufgeregt wiederholend. Aber der Plot läuft meist zügig durch und wird im letzten Drittel sehr spannend. Es gibt kaum hohle Verallgemeinerungen, wenig mystisches Geraune, das Nature Writing ist nüchtern eindrucksvoll, und noch verzichtet der Autor auf sein späteres Lieblingsmotiv, nächtlich dräuende Wolkentürme über spiegelglatter See. Der Kolonialismus erscheint als brutal, aber ohne streng gutmenschelnden Anklagefinger. Verblüffend, dass Joseph Conrad die Teile 2 und 3 der Lingard-Trilogie so vergleichbar plottete.
Stil:
Die knapp 16 Seiten von Kapitel 11 bilden gegen Ende eine Ausnahme vom zügigen Erzählton, erst mit den verlorenen Grübeleien eines Flüchtlings, und dann fallen doch noch Süßholzspäne:
S. 141: ‘The sea, O Nina, is like a woman’s heart.’
S. 153: ‘Her tears are more terrible than the anger of gods.’
Abgesehen davon: Viel zu aufdringlich betont Conrad wieder und wieder den Verfall des Almayerschen Anwesens. Allein auf Seite 27:
((…)) the circumstances of a half-savage and miserable life ((…)) the neglect, the decay, the poverty of the household, the absence of furniture ((…)) now sadly decaying ((…)) the rotten little jetty
Auch über die Hauptfigur Almayer redet Joseph Conrad von Beginn an sehr verächtlich (“the grey-headed and foolish dreamer”, S. 32). Und der einäugige Chefintrigant Babalatchi heißt wieder und wieder “the aged statesman” (u.a. S. 107).
Seine bekannten Stereotype mischt Conrad recht peinlich in der Beschreibung der gemischt eur-asischen Nina:
S. 17: her dark and perfect eyes had all the tender softness of expression common to Malay women, but with a gleam of superior intelligence
S. 27: the startled expression common to Malay womankind was modified by a thoughtful tinge inherited from her European ancestry
Ich kenne das Buch nur in der englischen Fassung der Penguin Modern Classics, zuerst gedruckt 1976, mein Nachdruck von 1986.
Freie Assoziation:
- Viele Bezüge zu Joseph Conrads Der Verdammte der Inseln (Lingard Teil 2 von 3), aber nicht zu Die Rettung (Lingard Teil 1 von 3)
- Eine Tochter wird nach Singapur ausgelagert und kehrt später an den entlegenen Ort des Vaters zurück – das gibt’s auch in Joseph Conrads Erzählung Freya von den sieben Inseln
- Arme abhängige Weiße in Asien, unter ihnen eine begehrenswerte Tochter, das gibt’s nicht oft, aber in Marguerite Duras’ Heiße Küste, ebenso verfilmt wie Almayers Wahn
- Weißer Mann und einheimischer Anhang wohnen anno dazumal isoliert am großen Fluss in Bahasahausen; die Handlungsträger erscheinen paddelnd: das kennen wir nur zu gut aus den Kurzgeschichten von W. Somerset Maugham – besonders deutlich sind die Parallelen (2 weiße Antagonisten an einem gottverlassenen Borneoflussposten) zur Maugham-Kurzgeschichte The Outstation (in More Far Eastern Tales und in Collected Short Stories Volume 4)
- Die Verfilmung von Chantal Akerman ändert Joseph Conrads Plot dramatisch; näher dran bleibt offenbar die malaysisch-indonesisch produzierte Verfilmung Hanyut
Joseph Conrad auf HansBlog.de:
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spielt ca.* |
HansBlog-Wertung (x von 10) |
Goodreads Wertung (x von 5) (Stimmen)** |
Stil |
Verfilmung |
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Lingard-Trilogie |
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(1898/) 1920 |
Die Rettung (Lingard 1/3) |
The Rescue |
1850er |
3 |
Liebe: völlig unglaubwürdig, blitzartig, Frauenfigur undefiniert Schauplätze: Segelschiff, Meer, Küste Stil: schwülstig Handlung: langsam, unübersichtlich |
--- The Rescue (1929). R Herbert Brenon, mit Ronald Colman, Lili Damita (Wiki) |
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1896 |
Der Verdammte der Inseln (Lingard 2/3) |
An Outcast of the Islands |
1872 |
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Liebe: Beginn glaubwürdig, spätere Besessenheit albern Schauplätze: Dorf und Handelsposten am Flussufer, Fluss Stil: teils pathetisch, teils geschriftstellert, teils ironisch Handlung: teils zügig, teils künstlich verlangsamt |
--- Der Verdammte der Inseln (1951). R Carol Reed, mit Trevor Howard |
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1895 |
Almayers Luftschloss bzw. Almayers Wahn (Lingard 3/3) |
Almayer's Folly |
1887 |
7 |
Liebe: unglaubwürdig, blitzartig, Frauenfigur undefiniert Schauplätze: Dorf und Handelsposten am Flussufer, Fluss (identisch mit Teil 2) Stil: überwiegend trocken, letztes Viertel pathetisch Handlung: zügig (pathetischer und langsamer im letzten Viertel) |
--- La Follia di Almayer | La folie Almayer (1972 o. 1973). R Vittorio Cottafavi, mit Giorgio Albertazzi, Rosemary Dexter --- La folie Almayer (2011). R Chantal Akerman, mit Stanislas Merhar, Aurora Marion |
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Erzählungen |
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1898 |
Geschichten der Unrast (5 Gesch.) |
Tales of Unrest |
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7 |
Liebe: teils blitzartig und mit fatalen Folgen, Frauen unspezifisch Schauplätze: 2x Südostasien, London, Kongo, Bretagne Stil: teils ironisch, teils pathetisch Handlung: überwiegend zügig |
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1912 |
Freya of the Seven Isles |
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7 |
Liebe: nicht blitzartig Schauplatz: südostasiatische Insel-Kolonialwelt Stil: gediegen erzählerisch, teils unheilvoll andeutend Handlung: nicht zu langatmig |
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* Info aus Kommentar zu An Outcast of the Islands, Ausgabe Oxford World’s Classics, 2002, S. 284
**Stand Herbst 2020
Verbindungen innerhalb der Lingard-Trilogie:
Im schwülstigen Teil 1 (Die Rettung, zuletzt fertiggestellt) ist Tom Lingard die Hauptfigur und ein heldenhafter Kapitän; das ganze Buch ist schwer pathetisch. In Teil 2 (Verdammter der Inseln) und vor allem Teil 3 (Almayers Luftschloss) erzählt Conrad nüchterner, und Lingard ist nur eine Nebenfigur, die nicht an den Lingard aus der Rettung erinnert.
Die Teile 2 und 3 haben teils identische Schauplätze, Figuren, Handlungen, man sollte sie hintereinander lesen. Die Hauptfigur ist einmal Willems, einmal Almayer, doch sie zeigen viele Gemeinsamkeiten, u.a. die Ehe mit einer ungeliebten, inkompatiblen Nichtweißen ("A dismal woman!", Der Verdammte S. 11), die auf Druck eines reichen Geschäftsfreunds und Gönners geheiratet wurde. Auch die Erzählweise mit Rückblenden, vielen Teilen und Kapiteln, unterscheidet sich in den Teilen 2 und 3 nicht. Dazu kommen spannende interkulturelle Begegnungen mit Malaiien, Europäern, Arabern, Chinesen.
Alle drei Romane zeigen eine unrealistisch rasend verliebte Hauptfigur – so schwer nachvollziehbar wie in einem verklärten Bollywood-Schinken.