Hermann Schreiber übertreibt es: er beginnt nicht nur mit gleich 2 Vorwörtern (Idealwert: 0), sondern rekurriert sofort auf die „Hafenstadt Emden… zu Zeiten ihrer Hochblüte im 16. Jahrhundert“. Wo ist der stern-Chef?
Keine Quellenangaben:
Hermann Schreiber (1929 – 2020) recherchierte erkennbar tief, redet im Vorwort von “zwei Jahren intensiver Nachforschung”, wühlte in Drucksachen seit den 1920er Jahren, erklärt Historisches und militärische Ränge zu genau, sprach wohl mit Dutzenden Zeitzeugen. Der Umfang der Biografie in meiner eng bedruckten, vollständigen Goldmann-TB-Ausgabe von 2001:
- gesamt 509 Seiten
- Haupttext einschl. 2 Vorwörter: 480 Seiten
- 24 SW-Fotodruckseiten nicht paginiert
- Anhang: nur 29 Seiten
Der Anhang ist so kurz, weil Hermann Schreiber schlicht auf Endnoten für präzise Quellennachweise verzichtet – bei einer historischen Biografie! Schreiber schreibt im Vorwort: Henri Nannen (1913 – 1996)
paßt in keine Fußnote und in keinen Apparat. Ich will ihm nicht antun, den Erzählfluss seiner Lebensgeschichte mit Quellenhinweisen und numerierten Anmerkungen zu unterbrechen. Ich weiß, er hätte das als eine Zumutung für den Leser empfunden – und hätte selber nicht weitergelesen.
So redet sich einer raus, akzeptiere ich nicht. Trotzig behauptet Schreiber weiter, der Leser könne
davon ausgehen, daß ich gründlich recherchiert habe und daß es für jede Situationsschilderung eine Quelle gibt, die der Nachprüfung, wo immer sie noch möglich war, standgehalten hat oder über Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit erhaben ist. Ich war Zeit meines Lebens Reporter und weiß also, …
Jaja. Auch wer ihm Rede und Antwort stand, enthüllt Schreiber nur kursorisch, sein Dankwort hat kaum eineinhalb Seiten.
Zu den belegfreien, aber interessanten Dokumenten in Schreibers Buch gehören die schwurbeligen, nazifreundlichen Kunstbetrachtungen, die Henri Nannen in den 1930ern veröffentlichte – und Nannens teils bissige, teils reuige Reaktionen auf entsprechende Vorwürfe in den 1960er Jahren. Etwas später bringt Schreiber ausführliche Russland-Berichte über Kriegsgreuel und Holocaust – Nannens öffentliche Reportagen, seine ganz anders klingenden Privatbriefe und – zu niedlich – über Katzen, die Nannen in seinem Schlafsack gegen den russischen Winter schützt.
Der 24-seitige Bildblock auf Fotodruckpapier zeigt immer wieder Henry Nannen und andere A-Promis – die vielen Protagonisten aus der zweiten Reihe erscheinen, wenn überhaupt, unidentifiziert; es gibt keine Bilder von der TV-Debatte mit Gerhard Löwenthal, wichtige Stern-Cover oder Organigramme der Firmenverflechtungen, die Hermann Schreiber so gern schildert.
Detailfreudig:
Hier wie auch in anderen Bereichen informiert Schreiber überaus detailliert. Selbst lange Zitate werden dabei im Buch nicht eingerückt oder sonstwie typografisch herausgehoben, sondern schwimmen im Fließtext mit – Blattmacher wie Schreiber oder Nannen nennen sowas sonst gern pejorativ “Bleiwüste”.
Teilweise verrennt sich Schreiber völlig in Details des zweiten Weltkriegs. Über eine seltsame Konstellation in Italien sagt er:
Es gibt sogar zwei Erklärungen dafür… beide haben den Nachteil, nicht bewiesen und wohl auch nicht mehr beweisbar zu sein. Aber da sie beide spannend sind, sollen sie hier erzählt werden.
Es folgen mehrere Seiten zu Nannens Propagandaaktionen in Russland und Italien. Erst auf Seite 174 endet der zweite Weltkrieg (darin enthalten einige Reaktionen Nannens auf spätere Vorwürfe). Privates diskutiert Schreiber dagegen stets zu knapp; ihm liegen Briefe der Beteiligten vor, sagt er manchmal, aber er will nichts weiter erzählen, man wolle sowas auch nicht wissen.
Zwar gibt es ein eigenes Kapitel über Nannen und die Frauen – es beginnt mit der platonischen Liebe zu Hildegard Knef und führt zur Diagnose von Nannens „subjektiv monogamen Mehrweiberei”; die Detailfreude wie bei historischen und Wirtschaftsthemen lässt Hermann Schreiber hier jedoch vermissen.
Schreiber vergleicht auch nie „Spiegel“ und „stern“. Die Biografie liest sich durchgehend, als sei der Stern das wichtigste Blatt der Republik – wie es im Vergleich zum Spiegel tatsächlich dastand (Auflage, Bedeutung, wirtschaftliche Situation, Enthüllungen), wird nie erörtert; angeblich hatte das Bilderblatt in den 1960ern und 1970ern viele engagiert linke Redakteure.
Auch die Frage, wie viele produzierte Artikel nicht gedruckt wurden, vermeidet der Autor, das Wort „Papierkorbquote” fällt unkommentiert. Er diskutiert kaum wichtige Veröffentlichungen des stern – selbst der Abtreibungstitel erscheint nur am Rand – und interessiert sich mehr für wirtschaftliche und politische Verpflichtungen.
Sprache:
Top-Journalist Hermann Schreiber textet überwiegend leicht lesbar, paraphrasiert seine berühmten Worte zum Warschauer Kniefall, produziert aber auch überflüssige rhetorische Fragen und no-nos wie „vertrat die These“.
Sich selbst erwähnt der Biograph generell nicht. Nur gelegentlich blitzt sein Vergnügen hervor, etwa in den Passagen über Springer-Angriffe auf Nannen-Wegbegleiter Hans Weidemann, der erst unter den Nazis und dann beim stern Karriere machte: Man kannte Weidemann
als einen sanguinischen Charmebolzen und Kontakt-Artisten, der unter jedem Regime PR-Karriere gemacht hätte. Erst der durchschaubare Versuch, mit diesem Mann als Knüppel den Sack Nannen zu schlagen und den Esel Brandt zu meinen,…
Und die Fortsetzung:
Offensichtlich wirkte die Behandlung des Falles Weidemann im stern wie ein Zündfunke, der eine Reihe von redaktionsinternen Verpuffungen auslöste. Besonders Nannens Flügeladjutanten bekamen das zu spüren. Im Resort Deutsche Politik entlud sich der aufgestaute Unmut…
Assoziation:
- als Nebendarsteller tauchen andere Hansblog-Akteure auf wie Leni Riefenstahl (relativ wichtig), Willy Brandt, jedoch nicht Thomas Mann oder Erich Kästner (beide jeweils 0 mal im Personenregister)
- die Lebenswege von Rudolf Augstein und Axel Springer (beide Nebenfiguren in der Nannen-Biografie)
- wegen der Kampfflugzeugbegleitung im zwoten Weltkrieg auch der Roman Catch-22 von Joseph Heller
- das Buch ist näher am Mann und am Leben als die Rudolf-Augstein-Biografie von Peter Merseburger