Romankritik: Was geschah mit Slocum, von Joseph Heller (1974, engl. Something Happened) – 7 Sterne

Seinen sensationellen Erstling Catch-22 (1961) konnte Joseph Heller nicht mehr toppen, schon gar nicht mit der Fortsetzung Endzeit (1994, engl. Closing Time). Doch zumindest Hellers Was geschah mit Slocum (1974, engl. Something Happened) ist streckenweise nicht übel und enthält viele fiebrig-repetitive, absurde, misanthropische und zynische Passagen, die vage an Catch-22 erinnern. Im Vergleich zu Catch-22 klingt Heller hier etwas milder, außerdem spielt das Buch im Büro und in einer bürgerlichen Familie, nicht im Krieg. Es geht also nicht mehr um Leben oder Tod. Einige Profi-Kritiker bezeichneten die Slocum-Geschichte sogar als Hellers Hauptwerk, Lob kam auch von Kurt Vonnegut und H.M. Enzensberger.

Auf den ersten 50 Seiten verallgemeinert der Ich-Erzähler sein Familien- und Büroleben, es gibt kaum Dialog oder knackige Einzelszenen und gar keine durchgehende Handlung. Solche Bücher lege ich normal gleich weg, aber Joseph Heller (1923 – 1999) ist einfach zu gut. Danach mischt Heller dialogreiche Episoden aus der erzählten Jetzt-Zeit und aus der Vorgeschichte, durchsetzt mit weiteren Verallgemeinerungen, mitunter auf zwei absatzlosen Seiten am Stück.

Kreisel um sich selbst:

Die Hauptfigur spricht laufend unangenehme, unsympathische Dinge aus, die wir sonst meist nicht äußern oder denken. Die vielen inhaltlichen und Wort-Wiederholungen lassen den Roman manchmal wie rhythmischer Gesang klingen, oder nervös bis übergeschnappt, oder wie mathematische Gleichungen. Zu diesem Eindruck tragen auch die vielen in sich widersprüchlichen Sätze und die Klammerbemerkungen bei, die gleichwohl immer perfekt übersichtlich bleiben. Ein paar typische Stilfiguren, die immer wiederkehren (S. 258f):

(Nothing is suppressed in our family.)

(In our family, everything is suppressed.)

We want him to be different, and superior. (But we also want him to be not much different. (…))

Solche Wiederholungen zelebriert Heller auf 570 englischen Seiten nicht nur auf Satz- oder Absatzebene, sondern auch auf Gesamttextebene: Bestimmte Motive kehren immer wieder, so etwa eine mental unstabile Kollegin, der Ekel über seine sieche  Mutter und seinen geistig behinderten jüngeren Sohn, der verhinderte Redeauftritt bei einer Firmenveranstaltung, die verpasste Chance bei der sinnlichen Virginia und ihr Selbstmord, die mögliche Beförderung zum Schaden eines anderen Kollegen. Für solche Wiederholungen entdeckt Ich-Erzähler Slocum sogar einen Fachbegriff, den er sogleich nach Heller-/Slocum-Art zelebriert (S. 411):

It’s called echolalia.

It’s called echolalia (…)

(It can go on forever.)

It can go on forever.

“Shouldn’t I be?” I ask.

“Shouldn’t you be?” he asks.

Zudem betont die Hauptfigur permanent ihre Nichtigkeit und Anpassung, sie übernimmt etwa Handschrift, Tonfall oder Gangart von anderen. Seine Fremdwörtermanie bremst Heller im Vergleich zu Catch-22 etwas ein, er kredenzt aber auch hier im Slocum-Roman Raritäten wie concupiscence, valorous, anaclitic, invidiously oder obstreperously.

Auch nach den ersten 50 Seiten kann von einer echten Handlung nicht die Rede sein: In der erzählten Jetztzeit geht es lediglich darum, ob Slocum in der Firma auf- und mit Grafikerin Jane ins Bett steigt – über hunderte Seiten praktisch ohne viel Fortgang. Dazwischen Rückblenden und Verallgemeinerung.

Mehr Kreiseln ums Selbst:

Außerdem kredenzt der Autor sehr lange Kapitel über die pubertierende Tochter des Ich-Erzählers und separat über den weichlichen jüngeren Sohn. Hier erscheinen wieder Verallgemeinerungen und endlose Dialoge aus der Vorzeit. Diese Wortwechsel sind voller (teils gewollter) Missverständnisse und Wiederholungen, die Sprecher kreisen immer um das Selbe oder knapp daran und aneinander vorbei. Das ist zwar im einzelnen amüsant und scharf beobachtet, wegen des stets halb gehässigen, verächtlichen Blicks des Ich-Erzählers auf seine Familie und der schieren Länge aber nicht durchgehend vergnügungssteuerpflichtig.

Ich hatte Was geschah mit Slocum vor vielen Jahren schon einmal auf Deutsch gelesen. Die Wiederbegegnung jetzt mit dem englischen Original enttäuschte mich nur wenig – und die geringfügig abgeschwächte Absurdität im Vergleich zu Catch-22 macht das Ganze realistischer. Ich hatte diesmal die englische TB-Ausgabe des Random-House-Imprints Vintage und kann die Eindeutschung nicht beurteilen.

Assoziationen:

  • Hellers Catch-22 wegen der Stilfiguren
  • John Updikes Rabbit-Romane wegen des verächtlichen Ich-Erzähler-Blicks auf die US-Ostküsten-Mittelschicht-Familie, auch einige frühe New-York-Kurzgeschichten
  • Italo Svevos Zenos Gewissen: In beiden Romanen kreist der Ich-Erzähler unentwegt um sich selbst und um seine Umgebung, spricht unangenehme Dinge aus, übernimmt Eigenschaften von anderen, z.B. den Hinkegang
  • Erneut Zenos Gewissen sowie außerdem Martin Walsers Ehen in Philipsburg: In allen drei Romanen betrügt der selbstgerechte Ehemann seine hochgeschätzte Ehefrau mit wesentlich Jüngeren; bei Svevo: “An Carlas Seite lebte meine Leidenschaft für Augusta völlig ungebrochen wieder auf… tatsächlich vergötterte ich in diesem Moment meine Frau…, die ich tagtäglich betrog” (S. 287, 296)
  • Der Billy-Wilder-Film The Apartment: Im Film wie hier im Heller-Buch geht’s um das Apartment eines Angestellten, in das seine Kollegen ihre Eroberungen führen
  • Die New Yorker Angestellten in den Romanen von Richard Yates
  • New Yorker Kurzgeschichten von John Cheever
  • Musik von Philip Glass wegen der hektischen Repetitivität


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