Romankritik: Eines Menschen Herz, von William Boyd (2002, engl. Any Human Heart) – 7 Sterne – mit Links & Video

Das fiktive, fast lebenslange Tagebuch von Logan Gonzago Mountstuart: Es beginnt mit Internatsjahren in England in den 1920er Jahren, dann erste Erfolge als Schriftsteller in London und Paris, Abenteuer im zweiten Weltkrieg, später Kunsthändler und Schriftsteller in New York, einige Jahre in Afrika, schließlich London und Südfrankreich bis zum Tod 1991. 2010 wurde eine vierteilige TV-Serie daraus, vier verschiedene Schauspieler verkörpern die Hauptfigur in unterschiedlichen Lebensphasen.

Fazit:

William Boyd kreiert einen intelligenten, reflektierten, mild sympathischen Ich-Erzähler, dessen Geschichte einen eigentümlichen Sog entwickelt, obwohl sie kaum einmal spannend und – wegen der manchmal sporadischen Tagebucheinträge – ungleichmäßig ist. Ein paar Krimi-Episoden stechen seltsam heraus.

Die Geschichte ist flüssig formuliert und gut konstruiert mit vielen Querverbindungen zwischen den Jahrzehnten, auch wenn der Personenreigen mitunter unübersichtlich wird. Die Konzentration auf Frauen, Alkohol und Künste unter Vernachlässigung von Politik oder Sozialem enttäuscht leicht.

Frauen, Malerei, Literatur und Alkohol:

Mountstuart durchlebt ein Jahrhundert voller Politik und Kriege, doch Frauen, Malerei, Literatur und Alkohol stehen immer im Vordergrund, und kaum eine Beziehung gelingt ohne Ehebruch, Prostituierte tauchen mehrfach auf. In den 60ern lebt er in New York, doch John F. Kennedy wird erst bei seiner Ermordung erwähnt, seine Frau erscheint früher. Auch die Kubakrise taucht nur in einem Nebensatz auf.

Im Krieg arbeitet Mountstuart für die Navy, beschattet jedoch vor allem den als König abgedankten Duke of Windsor auf den verschlafenen Bahamas. Chamberlain oder Churchill erscheinen nur ein- oder zweimal am Rand, ebenso wie später Margret Thatcher. Montstuart hat auch am Rand mit der deutschen Rote-Armee-Fraktion zu tun, doch Politik interessiert ihn wiederum nicht.

Namedropping:

Boyd müht sich um ein sehr realistisches Tagebuch, viele bekannte Figuren spielen Nebenrollen, so Ian Fleming, Ernest Hemingway, Virginia Woolfe, James Joyce, Pablo Picasso. Das Buch hat Fußnoten, Stichwortverzeichnis und eine Literaturliste. Doch Mountstuarts Tonfall ändert sich über die Jahrzehnte wenig, nur als Teenager klingt er besonders blasiert und gegen Ende besonders literarisch. Das private Tagebuch ohne erklärte Veröffentlichungsabsicht wirkt auch insgesamt etwas geschriftstellert; allerdings ist der Ich-Erzähler ja formbewusster Literat. Störender: Es wird nie erklärt, wer die Fußnoten und die sehr informierten Zwischenbemerkungen geschrieben hat – dieser Mangel schwächt die Fiktion.

Boyd verwendet viele seiner Lieblingsthemen und Elemente seiner eigenen Vita, so das Leben auf mehreren Kontinenten, Internatsleben, akademisches Leben in Westafrika, Künstlerbiografien (sein Maler Nat Tate aus der fiktiven Biografie von 1988 taucht wieder auf), Hauskauf und Einleben in Südfrankreich sowie zwanglose Vulgaritäten. Ganz zu Anfang und ganz am Ende geht es um das männliche Vermehrungsorgan. Auf Seite 46f heißt es in zwei aufeinanderfolgenden Absätzen der jugendlichen Hauptfigur:

We talked filth for a pleasant half hour… nothing nicer than being pleasantly tight on a Sunday morning at 10.30


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