Romankritik: Das Testament Donadieu, von Georges Simenon (1937) – 7 Sterne

Simenon

George Simenon beschreibt das 1930er-Leben in einer kleinen französischen Hafenstadt, in Paris und anderen Orten wie immer sehr plastisch und mit vielen markanten Details. Er schafft dramatische und vergnügliche Konstellationen.

Der Roman gilt als frühes Meisterwerk. Für mich ist es ein typischer Simenon: sehr solides Handwerk, seine Zeit wert, leicht lesbar, allemal besser als aktuelle deutsche Autoren (kein Geschwafel, dialogsatt, keine indirekte Rede), aber nicht wirklich hinreißend.

Der Roman leistet sich auch ein paar handfeste Schwächen: Gleich zu Beginn kommt es zu einem überraschenden Todesfall, dem die Familie nie richtig auf den Grund geht; der Forensiker schließt Gewalteinwirkung aus, doch andere Ursachen werden nicht diskutiert; warum? Auch hinterlässt der Verstorbene ein sehr verblüffendes Testament, das die Betroffenen ohne Diskussion akzeptieren. Und der Autor weist überdeutlich auf einen möglichen Mörder hin. Später verschwinden ein Familienmitglied und dessen Begleiter, ohne dass die Familie viel Aufhebens darum macht – insgesamt unrund. Und wird all das je aufgeklärt?

Einige Figuren verhalten sich zudem äußerst unklug und treiben so die Story voran. Immer wieder bringen außereheliche Regelverletzungen neue Entwicklungen, fast schon langweilig.

Auch wechselt die Distanz des allwissenden Erzählers zu seinen Figuren fortwährend: mal weiß er alles über sie, mal informiert er den Leser nur vage; wie es gerade passt. Zudem sind zwei oder drei wichtige Figuren (u.a. Philippe und Kiki in ihren jüngeren Jahren, später Martine) seelisch angegriffen bis ernsthaft angeknackst und verhalten sich teils ungewöhnlich – das macht die Geschichte nicht zwingender.

Bedarfsweise mit Information hinterm Berg halten und unberechenbare Hauptfiguren, das überzeugt nicht rundum; aber es erlaubt dem Autor einfache Kontrolle der Spannung und Drama nach Bedarf – sicher wichtig für den Donadieu-Roman, der zuerst in Fortsetzungen in der Zeitung erschien. Laut Simenon (1903 – 1989) war der Zeitungsauftrag auch verantwortlich dafür, dass der Roman weit länger geriet als andere Simenons: Meine deutschsprachige Ausgabe aus der Diogenes-Reihe “Ausgewählte Romane” hat rund 530 Seiten (allerdings mit gefühlt wenig Text pro Seite; gefühlter Umfang eher wie ein kurzweiliger 400-Seiten-Roman, und Simenon-typisch leicht lesbar, voller Dialoge).

Elke Schmitter hat ein Faible für Ehebruch-Themen, und so lobte sie auch in der taz das in dieser Hinsicht ergiebige Testament Donadieu. Sie pries überdies die Übersetzung – ich fand die Eindeutschung soweit passabel, aber nie auffällig gut, kenne aber lediglich die Ausgabe “Ausgewählte Romane”, keine früheren Ausgaben oder das Original. Auch die FAZ lobte den Roman.

Assoziationen:

  • Simenons Bananentourist schreibt das Leben eines Donadieu-Sprosses an anderem Ort fort (1938), hat aber keine wesentlichen Bezüge zum Testament-Roman
  • Buddenbrooks von Thomas Mann: in beiden Romanen geht’s um ein Handelshaus in einer Provinzstadt, der Patriach verstirbt unwürdig, ein möglicher Juniorchef packt’s nicht (Christian B., Michel D.), die Dynastie ist gefährdet (in anderen Punkten unterscheiden sich Buddenbrooks und Donadieu wesentlich)
  • Simenons Die Marie vom Hafen (1938), das ebenfalls in einer Hafenumgebung spielt, wenn auch in anderen gesellschaftlichen Sphären
  • Das Roman-Leben von Philippe und Martine in Paris erinnert an den echten Georges Simenon und seine Tigi nach Simenons ersten Erfolgen
  • Womöglich haben auch die Stundenhotels im Roman biografischen Hintergrund, und das Ertappt-Werden im Stundenhotel erinnert an eine Szene aus Simenons Roman Das Blaue Zimmer

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