Rezension: Gebrauchsanweisung für Istanbul, von Kai Strittmatter (2014) – 7 Sterne

Kai Strittmatter findet Istanbul und die Türkei total toll, und das erklärt er hier aufdringlich enthusiastisch. Aber auch sehr informativ und leicht lesbar: Bei aller Humoristik (“Mehr noch als mit dem Krummsäbel ist der Türke nämlich mit dem Siruplöffel in der Hand geboren”, S. 67) produziert Strittmatter keine heiße Luft, sondern Fakten, Fakten, Fakten und immer neue, reizvolle Erkenntnisse.

Zwar ist die Kapitelfolge völlig unsystematisch und feuilletonistisch unverständlich überschrieben. Gleichwohl: In hochtourigem, launigem Plauderton kredenzt SZ-Korrespondent Strittmatter jede Menge Hintergründe, Historisches und reizvolle Einblicke in die Landessprache: scheinbar willkürlich, aber doch gut aufgereiht. Das rauscht so unterhaltsam vorbei – man merkt kaum, wie man doch prächtig belehrt wird (ich hatte die 7. Auflage, 2014).

Strittmatter sagt wenig über das eigene Leben am Bosporus (nur auf seinen kleinen Sohn kommt er zu oft) und portraitiert einige Lokalpromis knapp, vor allem Lokalautoren (aber nicht Orhan Pamuk, knapp Elif Şafak). Strittmatter hat ein großes Herz für Essen, Trinken, Dolce Vita, mordhaltige Istanbulromane, die gute alte (nicht-nationalistische und anatolierfreie) Zeit und Minderheiten (Juden, Christen, Griechen, Kurden, Armenier); weniger für darstellende Künste (einschl. Akin-Filme), Innenstadt und übliche Touristenziele. Istanbuler Türken mit Deutschlandvergangenheit (Deutschländer) – ein beliebtes Thema für TV-Dokus – erscheinen gar nicht.

Musik bespricht Strittmatter nicht um ihrer selbst willen, sondern als soziales Phänomen: Immer wieder kommt er auf Ibrahim Tatlises und andere “Arabesk”-Sänger, die für bestimmte Bevölkerungsschichten stehen. Mercan Dede portraitiert Strittmatter kurz als Kollateraleffekt des Sufimus-Booms. Obwohl der Ausdruck Gecekondu gelegentlich fällt, wird er nie erklärt und Strittmatter schreibt nie mehr als eine halbe Zeile über eine Favela.

Reihentypisch bietet diese “Gebrauchsanweisung” weder Innenfotos, Karten noch Schlagwortverzeichnis. Als Einführung für Istanbul, ja für die Türkei ist das kundige und vergnügliche Bändchen sicher bestens geeignet.

Die Zeit zum Buch:

Bei Strittmatter beginnt Istanbul zu riechen, zu funkeln, zu tanzen, zu explodieren. Es beglückt, kann aber auch nerven. Der Autor liefert Einblicke in einen Ort unter Hochspannung, in dem man, eben noch fasziniert, geradewegs in eine Fallgrube stolpert. Ein sinnliches und lehrreiches Buch, das die kleinen Zumutungen des Istanbuler Alltags humorvoll und ironisch verpackt.

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