Mary Dearborn schreibt weitgehend entspannt, angenehm zu lesen. Sie dramatisiert nichts. Sie schreibt nicht streng chronologisch, sondern liefert manchmal zeitliche Querschnitte, zum Beispiel zur Beziehung Hemingway-Fitzgerald. Lediglich Hemingways vorgezogener Selbstmord, dem noch einige Seiten über seine letzten zwei Lebensjahre folgen, befremdet – das klingt nachträglich montiert.
Dearborn mag einige frühere Hemingway-Kurzgeschichten, insonderheit Kilimanjaro und Macomber, sowie ein oder zwei frühe Romane. Sie schildert Hemingways erste zwei Frauen Hadley und Pauline verhalten liebenswert.
Ansonsten beschreibt die Biografin Ernest Hemingway, seine Frauen, sein Werk überwiegend negativ – stets nachvollziehbar gut begründet und nie eifernd, belehrend, parteiisch (ob sie ein stimmiges Gesamtbild liefert, kann ich nicht beurteilen). Hemingway war nach diesem Buch zumeist ein Kotzbrocken; in seinen letzten etwa zwölf Lebensjahren kamen noch erbliche Manie, Alkoholmissbrauch, Großmannssucht, gewaltiger psychogener Medikamentenkonsum, psychogene Kopfverletzungen und Kontrollverlust hinzu. Mehrfach liefert Dearborn längere Medikamentenlisten, diskutiert mögliche Nebenwirkungen und den medizinischen Kenntnisstand der 1950er Jahre.
Dearborn zitiert kaum aus Hemingways Prosa, vor allem keine längeren, eingerückten Zitate aus seinem Werk. Auch aus Briefen oder Tagebüchern zitiert sie eher wenig und wenn, dann selten ausführlich in eingerückten Absätzen. Auf Seite 175 erzählt sie einen Brief an Bill Smith fast eine Seite lang nach. (Ich persönlich lese gern lange Zitate und ungern komplette Autobiografien oder Briefausgaben.)
Ich kann nicht beurteilen, ob Dearborn Fehler macht, die Wissenschaft korrekt wiedergibt oder gar weiterbringt. Sie erwähnt im Nachwort das neue Hemingway Letters Project, dessen Bände 1 und 2 (bis 1925) von geplant 17 ihr sehr halfen. Ergaben sich hier Erkenntnisse, die frühere Biografen nicht hatten? Von ihr neu entdeckes Hemingway-Material erwähnt sie nicht.
Dearborn stützt sich offen auf frühere Biografen: “Biographers are generally agreed that…” (S. 381); “as Amanda Vaill points out” (S. 389); “as Robert Trogdon has pointed out” (S. 523).
Nicht wertfrei:
Dearborn nennt die Hauptfiguren meist beim Vornamen, schreibt also über “Ernest”, “Scott”, “Archie” und andere – es klingt etwas unpassend. Auffällig und störend streut Dearborn immer wieder kleine Wertungen ein, oft in Parenthesen, nicht nur zu Hemingways Werk, sondern auch zu Äußerungen aller Akteure. Oft sind Dearborns Urteile überflüssig, weil der Leser aus dem Zitierten leicht selbst eine Meinung bilden und auf Dearborns Bevormundung verzichten kann. Nur einige wenige Beispiele:
“none of this puts Ernest in a very good light” (S. 207); “somewhat callous” (S. 313); “decidedly strange” (S. 319); “certainly it was churlish” (S. 351); “somewhat self-serving remark” (S. 395); “portentously if somewhat lamely” (S. 425); “clever if somewhat forced” (ebf. S. 425); “he rightly prided himself” (S. 439); “said, somewhat noncommittaly” (S. 541).
Viele Profirezensenten betonten, dass erstmals eine Frau über Hemingway schreibe und dass Dearborn erstmals Hemingways Haarfetisch und Geschlechterrollenspiele enthülle. Dies sind jedoch nur wenige verstreute Seiten – interessant, vergnüglich, kein Brüller für die Klatschspalte. Ob Dearborns Hemingway-Sicht weiblicher war als die der früheren, männlichen Hemingway-Biografen weiß ich nicht. Gelegentlich äußert Dearborn eine gewisse Einfühlung ins Los der späteren, sehr geplagten Hemingway-Ehefrauen; aber genau diese zwei Ehefrauen, Martha Gellhorn und Mary, bekommen auch sehr kritische Sätze ab.
Über die Welt nach Hemingways Tod sagt Dearborn praktisch nichts. Hemingway hatte drei überlebende Söhne, zwei überlebende Exfrauen und eine Witwe (darunter zwei ehemals erfolgreiche Journalistinnen). Ihr weiteres Schicksal hätte mich interessiert, zumindest in einem Abspann à la Was aus Ihnen wurde; auch zur literarischen oder allgemein kulturellen Nachwirkung hören wir nichts. Dearborn endet mit Hemingways Tod und ein paar mild elegischen Schlusssätzen.
Ausstattung:
Meine Taschenbuch-Ausgabe bei Vintage Books hat
- Paginierte Seiten gesamt: 738
- Seiten Haupttext ca.: 621 (Leerseiten stets nur teils herausgerechnet)
- Seiten Anhang ca.: 109
- Bilder: wenige kl. SW-Bilder direkt auf Textdruckseiten
- Gewicht ca.: 966g
- Nicht vorhanden: Zeittafel, Stammbaum, hochgestellte Ziffern für Endnoten, inhaltlich aufschlussreiche Kapitelüberschriften, lebende Kolumnentitel (ein Stammbaum könnte die unübersichtliche Schilderung der vielköpfigen Vorfahren sehr erleichtern)
Die zahlreichen Endnoten zu Textstellen haben im Lauftext keine hochgestellten Ziffern; man muss im Anhang nach Anmerkungen zu bestimmten Seitenzahlen suchen. Dort stehen dann manchmal reine Quellenverweise, manchmal auch interessante Hintergründe – insgesamt unübersichtlich.
Lästig auch, dass das Inhaltsverzeichnis die einzelnen Kapitel nicht ausweist. Die Kapitel tragen freilich nur Überschriften wie “One”, “Two” oder “Thirty-Two” – keine Angaben zu Inhalt oder Jahreszahlen. Weil es auch keine lebenden Kolumnentitel mit Jahreszahlen oder Ereignissen gibt, fällt es schwer, gezielt Passagen mitten im Text aufzusuchen. Das gelingt nur über das Stichwortverzeichnis. Weil Dearborn allerdings nicht immer strikt chronologisch schreibt, sondern gelegentlich Entwicklungen über Jahre hin zusammenfasst, fallen genauere Chronologie-Angaben vielleicht schwer.
Auswahl Hemingway-Biografien
Spr. | engl. | Autor | Wertung Goodreads* | Wertung Amazon.com | S. | Tenor Online-Rezensionen | |
2017 | EN | Ernest Hemingway | Mary Dearborn | 3,89 (367) | 4,0 (63) | 752 | Keenly dispassionate, coolly discerning
draws on recent research more willing to explore his many personality faults than did Dr. Baker Each chapter flows, and I was engaged in the story early on. That engagement never dimmed — seems to conclude that Hemingway’s reputations relies mainly on his first major work, The Sun Also Rises, and a number of his short stories Dearborn’s exploration of Hemingway’s supposed hair fetish and gender-role ambiguity Dearborn is not an inspired reader of Hemingway’s work and many of her literary judgments strike me as superficial and problematic… turning readers away from works that are well worth attention (e.g., A Farewell to Arms) — HansBlog-Vorabeindruck: meine Leseprobe ok, aber nicht hinreißend, bissl leger |
1999 | DE | Ernest Hemingway (rororo-Monografie) (5. Aufl. 2011) | Hans-Peter Rodenberg | 160 | HansBlog-Vorabeindruck: Leseprobe hat sehr lange Absätze, teils klinisch-substantivische Sprache. | ||
2014 | DE | Hemingway: Ein Mann mit Stil | Thomas Fuchs | 224 | lässt Unwichtiges weg
— HansBlog-Vorabeindruck: Leseprobe allzu schnoddriger Stil |
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1999 | EN | Hemingway: A Biography | Jeffrey Meyers | 4,7 (9) | HansBlog-Vorabeindruck: Leseprobe bissl drög, nicht so animierend | ||
2018 | EN | The Man Who Wasn’t There | Richard Bradford | 3,0 (3) | 352 | Autor Professor, lt. Rez. gut lesbar
blistering, rollicking, horribly convincing account Probably the most critical biography Bradford can always find a bad motive for any apparently good action or paragraph… bracing and meticulously researched astute analysis of previously unpublished letters — The editing is sloppy… As a physical object, this book is nasty, printed with too narrow margins on blindingly white paper a good few typographical and grammatical errors and even some misspellings occasionally Bradford’s statements are too sweeping the evident malice he feels for his subject skimpy index — HansBlog-Vorabeindruck: nur 1 Rez. auf Amaz.uk, KEINE auf Amaz.com, keine Leseprobe |
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1978 | EN | Ernest Hemingway | Anthony Burgess | 3,9 (9) | Burgess was a bit overconfident of his own uniqueness/written opinions
I think Burgess must have swallowed a dictionary of big words when simple ones would have done |
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Einzelne Perioden | |||||||
2017 | DE, EN | Everybody Behaves Badly: The True Story Behind Hemingway’s Masterpiece The Sun Also Rises — Und alle benehmen sich daneben: Wie Hemingway seine Legende erschuf ((nur Pariser Zeit)) | Lesley M.M. Blume | 4,3 (195) | dt. 528, engl. 368 | well-researched and well written
a book about a man she obviously despises. It is painful to read.
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1999 | EN | The Paris Years ((Teil 2 von 5 einer Gesamtbiografie)) | Michael S. Reynolds | 4,5 (41) | 432 | quite readable
— HansBlog-Vorabeindruck: Leseprobe sehr cool reportagehaft, sicher leicht lesbar |
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2019 | EN | Ernesto: The Untold Story of Hemingway in Revolutionary Cuba | Andrew Feldman | 3,78 (9) | 4,7 (4) | 512 | the first North American scholar permitted to study in residence at Hemingway’s beloved Cuban home
Very informational, so much historical information colorful and vivid description of Hemingway’s life and adventures It’s a warm story, but also a well-researched one puts Hemingway’s life in context with what was happening in the world — and especially in Cuban politics no academic tome, it’s as entertaining as it in informative — nothing new… most of the book is just a rehash of Hemingway’s life before 1953. There’s a certain amount of interesting stuff on Castro’s relationship with Hemingway |
*Alle Angaben Stand September 2019
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