Rezension Biografie: Barack Obama. Leben und Aufstieg/Die Brücke, von David Remnick (2010, engl. The Bridge) – 6 Sterne – mit Presse-Links & Video


Remnick erzählt Obamas Leben bis zum Einzug im Weißen Haus Anfang 2009. Die deutsche Hardcover-Ausgabe von 2010 heißt Barack Obama, Leben und Aufstieg; die offenbar textidentische Taschenbuchversion von 2012 erschien als Die Brücke: Barack Obama und die Vollendung der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Ich kenne nur die engl. Hardcover-Ausgabe The Bridge und kann die Eindeutschung nicht beurteilen.

Fazit:

Remnick schildert Barack Obamas Leben bis 2008 überwiegend ruhig und leicht lesbar. Seine gebildeten Exkurse sind jedoch zu lang, vor allem beim Rassenthema, und er behandelt Obama kritikfrei bis verehrend. Über Obamas Privatleben gibt es nichts.

Entspannt mit vielen Hintergründen:

David Remnick schreibt entspannt, meist gut lesbar, ohne Fußnoten, mit vielen markanten Details und O-Tönen; gelernt bei dieser Biografie habe ich u.a. die englischen Vokabeln “carpetbagger”, “comity”, “scurrilous” und “bloviation”. Remnick, renommierter Reporter des New Yorker, strebte “a piece of biographical journalism” an. Zum journalistischen Stil gehört zunächst, dass er Szenen plastisch ausmalt und zu Beginn mehrfach mit Rückblenden agiert – auch über den gedehnten Einstieg hinaus.

Später jedoch schildert Remnick sehr gelehrt über mehreren Seiten Figuren und Entwicklungen, die sehr wenig mit Barack Obama zu tun haben, so etwa:

  • kenianische Innen- und Wirtschaftspolitik der 1950er und -60er Jahre
  • die Proteste der Afroamerikaner in Selma 1965 (wo Obama Jahrzehnte später eine wichtige Rede hielt)
  • Sozialaktivismustheoretiker Saul Alinsky und sein Einfluss auf die junge Hillary Rodham
  • Denkschulen und Denker der Harvard Law School seit 1915
  • Denkschulen und Denker der Chicago Law School
  • die Feldforschungen von Obamas Mutter in indonesischen Dörfern (während ihr Sohn in Hawaii war; über Ann Dunham gibt es separate Biografien)

Wieder und wieder kommt der Autor in mehrseitigen Exkursen auf Rassenfragen:

  • Afroamerikaner in Chicago seit 1910 (mehrfach sehr ausgedehnt)
  • 16 lange Seiten über Kommunalpolitik und Schwarze in Chicago seit 1910 (und relativ wenig über Obamas konkrete Sozialarbeit in Chicago)
  • afroamerikanische Autobiografien und Leselisten
  • afroamerikanische US-Politiker seit 1852 mit einem Extra-Exkurs zu Jesse Jackson senior (diese Exkurse im Teil über die Wahlkämpfe 2007/2008)
  • Anfang 2009, der Einzug der Obamas ins Weiße Haus steht an – Remnick bringt einen langen Exkurs über Sklavenarbeit am und im Weißen Haus bis 1907

Länge und Zeitsprünge dieser Schwenks stören den Lesefluss.

Das kurze Nachwort würdigt Obamas erstes Präsidentschaftsjahr u.a. mit Finanzkrise und Nobelpreis. Wer das Buch bis hier gelesen hat, wundert sich nicht, dass die Rassenfrage auch diesmal den meisten Platz beansprucht (mit einem Rückbezug auf den Prolog).

Im Vergleich zu solchen allgemeinen Exkursen wirken Details zu Obama karg. Z.B. erhält keine Freundin vor Michelle Robinson mehr als eine Zeile (die späteren Biografien von Maraniss und Garrow verraten mehr). Erste Begegnung und Heirat mit Michelle belegen auch nur zwei Seiten. Bei den spannenden Vorwahlen und Wahlen 2007/2008 sagt Remnik dezidiert:

What remains of our story is not the 2008 campaign in its every aspect but rather the story of race in the campaign

– ein Thema, das Remnick bereits in größter Ausführlichkeit besprochen hatte.

Remnik interessiert sich mehr für intellektuelle und historische Strömungen als für konkretes Leben. Er bringt allerdings von 2007 und 2008 auch viele interessante Stimmen von Obamas, Clintons und McCains Mitarbeitern. Auffällig: Remnick, der auch Bücher über Bruce Springsteen und Muhammad Ali schrieb, erwähnt die Unterstützung der US-Showstars für Obama mit keinem Wort.

Freundliche Worte:

Und Biograf Remnick will Obama gewiss nicht vor den Kopf stoßen.  Remnick klingt durchweg bewundernd bis anbetend (mehrere professionelle Rezensenten bestätigen das). In seinen eigenen mit fiktionalisierten Jugendmemoiren Ein amerikanischer Traum (engl. Dreams from My Father, 1995) stellt sich Obama selbst kritischer dar, als es Remnick tut.

Remnick äußert oder zitiert kaum ernsthafte Kritik; und wenn, dann vor allem Absurdes von Ultrarechten und frustrierten Parteirivalen. Die Clintons kommen bei Remnick nicht so gut weg, und Republikaner schneiden hier generell schlecht ab (Remnick erwähnt immer wieder eigene Gespräche mit Obama, während er zu Hillary Clinton und John McCain nur ihre Mitarbeiter zitiert; der Kontakt zu Obama blieb beide Amtszeiten hindurch bestens). Die Fotos im Buch könnten direkt aus einer Wahlkampfbroschüre stammen.

Auffällig auch, dass Remnick kaum über Obamas Frauenbeziehungen schreibt, die Obama-Ehe äußerst knapp schildert und zu diesem Thema nur Zitate der zwei Hauptbeteiligten bringt – anders als sonst keine Zitate Außenstehender. Remnick zitiert auch nicht aus den Kurzgeschichten, die der junge Obama schrieb, obwohl sie möglicherweise vorlagen. (Deutlich weniger Obama-freundlich ist David Garrows Obama-Biografie Rising Star.)

Als Obamas erste Kenia-Reise anstand, erwartete ich von Remnick wieder lange Hintergründe zu Ostafrika in den 1980er und 1990er Jahren. Doch diese für den späteren Präsidenten so wichtige Reise behandelt Remnick ganz anders: Er ordnet die Keniareise gar nicht exakt chronologisch ein, sondern schildert sie eher als Inhalt der Obama-Memoiren Ein amerikanischer Traum (engl. Dreams from My Father, 1995). Remnick kommentiert Stil und möglichen Realitätsgehalt des Obama-Buchs allgemein, erwähnt später Obamas Wechsel zu einem mehr Tantiemen versprechenden Agenten; in punkto Kenia erzählt Remnick aber nur einige Details der Obama-Memoiren nach und scheint selbst kaum recherchiert zu haben (während Obama-Biograf Maraniss ausführlich aus Kenia berichtet, wenn auch eher über die Geschichte der Obama-Vorfahren als über die Erlebnisse des Juniors dort).

Remnick bringt ein paar längere, sehr schöne Briefauszüge Obamas, die an den lyrischen Stil seiner Jugenderinnerungen anklingen. Der junge Obama schrieb auch Kurzgeschichten, doch davon lesen wir keinen O-Ton.

Enttäuschung im Bildteil:

Meine englische Hardcover-Ausgabe hat nur 16 Bildseiten auf Fotodruckpapier. Die meisten Fotoseiten zeigen nur jeweils zwei Bilder, zum Teil bekannte Figuren wie Martin Luther King. Die meisten Obama-Weggefährten erscheinen darum nicht im Bild, auch nicht die prägenden Stadtviertel von Südchicago – Fazit: Während der Text zu viele zu abgelegene Figuren vorstellt, erscheinen auf den Fotoseiten zu wenig unterschiedliche Köpfe. Mehr und kleinere Bilder oder mehr Fotoseiten und mehr Bilder wären besser gewesen. Und Remnick oder seine Lektoren vergeuden wertvolle Fotoseiten mit PR-Fotos von andächtigen Obama-Anhängern, von Obama auf der Capitol-Treppe oder beim Friseur; das passt zwar gut in Remnicks mild glorifizierenden Kontext, bringt dem Leser aber nichts.

Pro Seite liefert Remnick nur etwa ein oder zwei Quellenangaben am Buchende, und das ohne nummerierte Fußnoten. Diese Anmerkungen am Buchende verweisen generell nur auf Veröffentlichungen, sie liefern keine inhaltlichen Informationen. Man muss also wirklich nicht nach hinten blättern und dort ein eigenes Lesezeichen einhängen oder aber kleingedruckte Fußnoten unten auf der Seite entziffern. Dazu kommen ausführliche Literatur- und Stichwortverzeichnisse, aber keine Zeittafel und kein Stammbaum.

Seine Interviews führte Remnick allerdings zur Amtszeit Obamas, und Remnick ist sich laut Nachwort der Gefahr bewusst, dass die Gesprächspartner nicht so offenherzig über amtierende Präsidenten reden mögen.

Mitunter schreibt Remnick über “derzeitige” oder “heutige” Verhältnisse. Welche Zeit er damit genau meint, ist unklar. Er sollte Jahreszahlen nennen.

Unterschiede zur Obama-Biografie von David Maraniss (2012):

Während Remnick Rassenüberlegungen ermüdend ausführlich erörtert, flicht Maraniss in der ersten Buchhälfte historische Randgeschehnisse ermüdend ausführlich ein – aber auch in der Beschreibung der Hauptpersonen liefert Maraniss scheinbar mehr Details als Remnick. Die genauen Landkarten und Stadtpläne nur bei Maraniss verstärken den Eindruck der Tiefenschärfe noch.

Im Vergleich zu Remnick geht Maraniss ausführlicher auf die Vorfahren in Kansas und Kenia ein und berichtet zudem weit mehr aus Kenia und von Obamas Basketball-Spiel an der High School. Maraniss weiß (oder zumindest sagt) auch viel mehr über die Freundinnen des jungen Barack Obama (Garrows, 2017, zerrt noch eine weitere ans Licht). Remnick bringt ein paar heitere Briefauszüge des jungen Obama; Maraniss zitiert viel privatere Briefzeilen und ein längeres Obama-Gedicht (aber keine Kurzgeschichte). Remnick schreibt ein geringfügig gebildeteres Englisch, das mehr Vokabelkenntnisse voraussetzt.

Remnick begleitet Obama bis zur Amtseinführung ins Weiße Haus 2009. Dagegen zieht Maraniss schon 1988 den Schlussstrich, vor Beginn des Jurastudiums in Harvard – dort, wo auch Obamas eigene Jugendmemoiren enden, deren fiktive Elemente Maraniss weit deutlicher herausarbeitet als Remnick (Garrow ist wohl noch gründlicher). Die von Maraniss bereits angekündigte Fortsetzung werde ich gern lesen.

Assoziation:

Wie Remnick arbeitet auch Lauren Collins beim New Yorker, und wie Remnick überfrachtet auch Collins ihr Buch mit ausschweifenden Bildungsexegesen – und sie bedankt sich im Nachwort bei Remnick

Deutsche Pressestimmen zu Remnicks Obama-Biografie:

taz:

in einer grandiosen amerikanischen Erzählweise… ein überaus spannendes Porträt des ersten afroamerikanischen Präsidenten

Tagesspiegel:

Im Grunde ist dies weniger eine Biografie Obamas als ein Geschichtsbuch der amerikanischen Gesellschaftsentwicklung seit den 1960er Jahren

Deutschlandfunk:

Remnicks Werk ist zugleich ein Porträt, ein ebenso feinfühliges wie kritisches Sittengemälde der amerikanischen Gesellschaft…

Deutschlandfunk Kultur:

eine grandiose Erzählung über Amerika, gespiegelt am Werdegang eines Afroamerikaners, der alle Klischees aufmischt.

Cicero:

Remnicks auf Hunderten von eigens geführten Interviews basierendes Werk zeichnet sich durch einen ungeheuren, bisweilen erschlagenden Faktenreichtum aus.

Literaturkritik.de:

Sein Stil ist beobachtend, sachlich, und obwohl die Darstellung unverkennbar von Sympathie getragen ist, wird man Hofberichterstattung vergeblich suchen

Englischsprachige Pressestimmen:

NY Times, Michiko Kakutani:

…with insight and nuance… with emotional precision and a sure knowledge of politics

Guardian 1:

Remnick’s prose is studious and encyclopedic, the dedicated, somewhat removed voice of the tireless investigative journalist.

Guardian 2:

This is a thick book about a still rather slim curriculum vitae

Washington Post:

Remnick obviously admires the president…

NYRB:

History is very much what Remnick is about… A voracious reporter of ready wit, he has always shown an uncommon sensitivity to larger historical events…

The Economist:

…superb—beautifully written and artfully constructed…

Kirkus Review:

Remnick’s fluent writing makes this expansive, significant book move along swiftly. Readers will look forward to the sequel

Publishers Weekly:

…detailed but lusterless… Remnick’s interest is ultimately limited to a study of Obama’s relationship with blackness

Christian Science Monitor:

Remnick’s firm grasp of race and its infinite volatilities is nuanced and balanced… the author remains all but starry-eyed.

Chicago Tribune:

he gives Sarah Palin only two paragraphs – preferring to keep his focus on the race’s racial dynamic.

NPR, Susan Jane Gilman (mit engl. Leseprobe):

Even-handed, eloquent, beautifully packaged…. At its best, The Bridge enriches Obama’s life story with historical gravitas and fine detailing…

Spectator:

…idolatrous new biography of Barack Obama, which presents the First Black President’s ascension to the White House as nothing less than a glorious saga… .

NY Times Sunday Book Review:

So far, “The Bridge” has drawn admiring reviews

Newsweek 1:

Prose: Tight, vivid, and unobtrusive. Clearly Remnick’s an editor who can apply his trade to himself… deftly composed narrative…

Newsweek 2:

… dispassionate, richly observed… Without sermonizing or sentimentalizing, Remnick sheds light on the complicated role of race in Obama’s rise

New York Post:

…thoroughly reported, mostly even-handed… He’s at his best when he explores American history and Obama’s history-making race for the White House

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