Kritik Sachbuch: Das Mädchen mit dem Poesiealbum, von Bart van Es (2018, engl. The Cut Out Girl) – 7 Sterne


Als die Nazis die Niederlande besetzen, wird das jüdische Mädchen Lien von seinen Eltern bei Nicht-Juden untergebracht – es gibt gefährliche Momente, Fluchten, Verrat, sie muss mehrfach umziehen. Lien überlebt, und um 2015, 80 Jahre alt, erzählt sie ihre Geschichte dem englischen Literaturprofessor Bart van Es (er war als Jugendlicher mit seinen Eltern von den Niederlanden nach England ausgewandert, seine Großeltern hatten Lien in den 1940ern zeitweise beherbergt).

Die 80jährige Lien hat ein Poesiealbum und viele alte Fotos und Briefe, die im Buch erscheinen. Das deutsche dumont-Hardcover zeigt die uralten Bilder und Handschriften groß und direkt auf Textdruckpapier jeweils an der passenden Textstelle, beeindruckend scharf und kontrastreich (engl. O-Titel The Cut Out Girl, niederl. Titel Vergeet-mij-niet).

1943, 2015, 1572:

Van Es sagt, sein Agent “challenged me to be more innovative in the structure and contents of this book”. Der Autor wechselt zwischen historischen Passagen um 1943 und seinen Recherche-Erlebnissen um 2015.

Liens 70 Jahre zurückliegende Erfahrungen schildert van Es so detailliert und intensiv, dass man es kaum glaubt. Er erzählt aber auch von seinen Reisen durchs Land 2015 und sieht in der Hauptstadt Den Haag u.a. “a steel outdoor urinal where two men are urinating”; so etwas kenne ich nur aus Kolkata (dort aus Stein).

Teils steigt Professor van Es zu tief in niederländische Geschichte ein: Bloß weil seine Hauptfigur 1943 im Ort Dordrecht unterkam, muss er doch nicht gleich die Stadtgeschichte der Jahre 1572 und 1618/19 reminiszieren? Einmal kommt er überflüssig auf seine Stieftochter Josie zu sprechen, später auf seine eigene “atheist family”; ich fragte mich, ob van Es das Buch gezielt längt. Auch, als er mit einem Verwandten aus der Unterhaltungsbranche eine Disco besucht:

Steven trades air punches with a muscled bouncer and bear-hugs the girl at the desk. Beyond this there is dry ice and music… Room one is themed as a 1970s beach club, with a retro glitter ball…

Warum?

Kollaboration und Kolonien:

Interessant sind dagegen van Es’ Recherchen zu niederländischen Nazi-Kollaborateuren – will er die Niederländer in die Pfanne hauen? Er beschreibt schwer erträgliche Szenen der Judenverfolgung und des Opportunismus, und er langweilt mit Beschreibungen seiner Archivbesuche. Auch das teils schändliche Verhalten der Niederländer nach Kriegsende und in den Kolonien erwähnt van Es – seine Großeltern stehen aber meist in gutem Licht da, auch belegt durch das schriftliche Lob einer jüdischen Hilfsorganisation.

Die Großeltern des Autors spielen eine wunderliche Rolle bei Liens Rettung und in ihrem Erwachsenenleben. Es gab später einen Kontaktabbruch. Dieses Geschehen mystifiziert van Es aufdringlich immer wieder im Buch, mit kleinen Andeutungen und dräuenden rhetorischen Fragen (“Why…? How could…? How could…?” und viele Seiten später noch einmal “How could…?”). Es klingt fast, als ob nicht Lien, sondern die van Esses die Hauptrolle spielen sollten. Geklärt wird diese offene Frage erst zum Buchende.

Unabhängig von diesem billigen Kunstgriff und den Weitschweifigkeiten ist das Sachbuch spannend, informativ und bewegend. Es liefert nicht nur Einblicke in das dramatische Leben eines jüdischen Kriegskinds, sondern erzählt auch Überraschendes aus den Niederlanden, einem weniger beachteten Land.

Niederländisch, Englisch, Deutsch:

Eine wahre Geschichte aus den Niederlanden, von einem Autor mit niederländischem Namen – ich glaubte, das sei auf Niederländisch geschrieben worden, und bestellte mir die deutsche Fassung, auch wenn ich bei Übersetzungen oft ein schlechtes Gefühl habe.

Erst als ich die deutsche Fassung aufschlug, realisierte ich, dass Autor Bart van Es auf Englisch geschrieben hatte. Da bestellte ich mir auch noch das englische Original (jeweils gebraucht, recht bezahlbar, aber mit längerer Lieferzeit, speziell aus Post-Brexit-England).

Das englische Hardcover, von einem Penguin-Imprint, wirkt so schlecht wie eine Raubkopie aus Ho-Chi-Minh-Ville, sogar die Buchstaben fransen aus. Die Bilder auf Textdruckpapier sind klein, kontrastarm, unscharf, mit schlechtem Streuraster. Dazu kommen einige doofe Tippfehler, besonders traurig “Lies decides” statt “Lien decides” (S. 221).

Das deutsche dumont-Hardcover zeigt die Bilder nicht nur größer, sondern auch weitaus klarer und anders als die englische Ausgabe mit Bildunterschrift. Zudem nennt die deutsche Ausgabe Ort und Zeit in den Kapitelüberschriften – eine nützliche Orientierung. Die englische Ausgabe schreibt nur Nummern über die Kapitel.

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