Kritik Roman: Ediths Tagebuch, von Patricia Highsmith (1977, engl. Edith’s Diary) – 9 Sterne – mit Video

Auch in diesem Roman von Patricia Highsmith sitzt jedes Wort. Sie schreibt sparsam, skizziert Stimmungen und Beziehungen messerscharf, streut stimmige Details, erzeugt Beklemmung aus dem Nichts.

Patricia Highsmith (1921 – 1995) erzählt eine realistische Handlung nüchtern, ohne dräuende Andeutung oder sonstige Dramatisierung. Politische Schlagzeilen (Nixon, Vietnam, die Kennedys) und Ediths Tagebucheinträge bindet Highsmith elegant ein. Und obwohl nicht viel passiert, lässt sich das Buch kaum weglegen (ich habe das englische Original gelesen und kann die Eindeutschung von Paul Ingendaay nicht beurteilen).

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1955. Eine linksliberale Kleinfamilie zieht aus New York in ein schmuckes Kleinstädtchen. Ein Traum. Edith will ein Gutmensch sein, mit Diskussionsgruppe, Rosen und Erdbeeren im eigenen Garten. Doch sofort ist die ersehnte Idylle bedroht: Nette neue Bekannte wollen sich 100 Dollar leihen; der zehnjährige Sohn Cliffie zeigt sich irritierend gefühllos; dann zieht ein ältlicher, bettlägeriger Onkel ein, den Edith nicht dahaben will und der Arbeit und Kosten verursacht; ihr Mann Brett ist lieb, aber auch unbedacht egoistisch.

Edith entwickelt böse Gedanken, die ein Gutmensch nicht entwickeln darf. Sie kann sich ihre Empfindungen selbst im Tagebuch kaum eingestehen.

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Wenn überhaupt etwas stört, dann die überraschenden Sprünge der Erzählperspektive zwischen Edith und ihrem Sohn (solches “head hopping” ist offenbar heute verpönt). Tante Melanies zugewandte Kultiviertheit kontrastiert Highsmith zu auffällig mit der Schlampigkeit der Johnsons. Und der Roman erstreckt sich über gut 20 Jahre, diesen Lauf der Zeit macht Patricia Highsmith nicht immer eingängig, trotz der Tagespolitik.

Zudem hängt von Beginn an Unglück über der Kleinfamilie, man ahnt den Abwärtssog, selbst optimistisch stimmende Zwischenhochs ermutigen nicht, speziell wenn man Ediths Charakter immer besser kennt. Diese eher gefühlte als reale Hoffnungslosigkeit macht die Lektüre beklemmend (jedenfalls für den sensiblen Hans B.).

Freie Assoziation:

  • Highsmith zieht unmittelbar ins Alltagsgeschehen einer Familie, schreibt teilweise aus Kindersicht, wechselt die Erzählperspektive leicht irritierend, mit diffus beklemmender Atmosphäre – all das erinnerte mich an die Highsmith-Kurzgeschichte The World’s Champion Ball-Bouncer (1947, hier im engl. Guardian)
  • Die hübsche Fassade einer bürgerlichen, freiberuflich arbeitenden Kleinfamilie mit Sozialleben, kultiviertem Geschmack und gutbesuchtem Barschrank – wie in Patricia Highsmiths Tiefe Wasser (1957). Dieser Roman, wie viele andere und wie auch Ediths Tagebuch, zeigt zudem einen reuelosen Übeltäter, der unter Verdacht gerät, aber (zunächst) nicht in Schwierigkeiten
  • Der missratene Sohn äußert gelegentlich peinliche Wahrheiten – ähnlich wie der geistesgestörte Sohn in Zeiten des Aufruhrs
  • Ein Sohn im Hotel Mama, der seine braven Eltern schockiert, wie in Nick Hornbys Kurzgeschichte Not a Star
  • Ein anderes Buch, bei dem es immer tiefer bergab geht (Bergunfall in den Anden): Sturz ins Leere, von Joe Simpson (bei Amazon)



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