Kritik Psychologie-Liebe-Buch: Der unheilbare Romantiker, von Frank Tallis (2018) – 8 Sterne

Fazit:

Frank Tallis (*1958) schreibt sehr flüssig mit viel Dialog und wechselt laufend zwischen persönlichen Geschichten und leicht konsumierbarer Seelenkunde. Für meinen persönlichen Geschmack sind die Fälle etwas zu extrem und zu wenig alltäglich – u.a. geht es um Stalking und Sexsucht, nicht immer mag man von “Liebe” reden. Dass die Geschichten kein Großesganzes ergeben, stört mich nicht; so ist die Welt.

Doch obwohl Tallis selten mehr als eine Seite am Stück über Wissenschaft referiert, könnte es von mir aus weniger Gelehrsamkeit sein – die vielen Syndrome, Komplexe, Theorien, Schemata, Hirnregionen, Drüsen, Medikamente und Psychokoryphäen interessierten mich weniger als die Fallgeschichten. Gefühlt beanspruchen allgemeine Wissenschaft und literaturgeschichtliche Vergleiche teils mehr als 50 Prozent einer Geschichte.

Obsessiv kompulsiv:

Der Klinische Psychologe Frank Tallis arbeitete viele Jahre u.a. für den englischen Gesundheitsdienst (NHS), aber auch privat. Seine Patienten erhielt Tallis teils durch Überweisung vom Allgemeinarzt. Auf je 20 bis 40 Seiten schildert Tallis hier zwölf Fälle, bei denen Liebe problematisch wurde, einschließlich Stalking, Eifersucht, Homosexualität, Pädophilie, Religion, Atheismus, Sexsucht, Dämonen – für jede*N ist etwas dabei.

Tallis ist spezialisiert auf Zwangsstörungen (OCD); seine Protagonisten wirken zu Beginn der Geschichten auffällig moderat, gerieren sich im Verlauf der Erzählung aber zunehmend bizarr. Völlig durchgeknallte Figuren stellt Tallis nie in den Mittelpunkt, sie erscheinen gelegentlich am Rand.

Stil:

Frank Tallis reüssierte auch als Krimi- und Horrorautor; viele seiner Fälle hier lesen sich fast wie souveräne Kurzgeschichten. Fast jede Fallgeschichte hier komponiert Tallis aus den immergleichen, gut durchmischten Elemente:

  • Dialog aus dem Patientengespräch
  • Atmosphärisches zur Umgebung des Patientengesprächs (“A gust of wind rattled the window pane, and a nurse, pulling the lapels of her coat over her head… hurried along the path”, S. 35)
  • Cliffhanger innerhalb einer Geschichte, die Lektürepausen vereiteln
  • Rückblende in die Entwicklung des Patienten, teils mit Bezug auf das Überweisungsschreiben des Allgemeinarztes
  • Meist kurze Exkurse über psychologische Theorien, Syndrome, Medikamente, Koryphäen (“His words reminded me of a clinical phenomenon known as Capgras Delusion. The sufferer believes…”, S. 26)
  • Mehrfach Bezug auf Tallis’ eigene Lebensgeschichte
  • Wiederholt zieht Tallis Vergleiche zur Literaturgeschichte, zuerst mit einem Roman von Ian McEwan, der zufällig auch das Tallis-Buch lobte, und zwar auf dem englischen Tallis-Cover. Später erwähnt Tallis zudem Henry James, Euripides, Epikur, Epiktet, Thomas Manns Tod in Venedig, Shakespeare, Tolstoi, Goethe und Khalil Gibran

In zwei Geschichten überwiegt das Allgemeine, die Stummel von Fallgeschichten wirken nur wie ein Vorwand zum Theoretisieren.

Lyrik und Prosa:

Fast immer läuft es bei Frank Tallis darauf hinaus, dass der Mann sein Erbgut weitergeben möchte – und sei es durch Lyrikproduktion (S. 130). Manchmal wägt er ab, ob ein Patient “abnormal” oder “supernormal” ist (S. 31). Immer wieder betont Tallis eigene Fehler, falsch gestellte Fragen, eigene Unsicherheit, wenn er etwa die Gefährlichkeit eines Patienten für die Allgemeinheit beurteilen muss.

Mitunter bestellt Tallis nach ersten Vier-Augen-Einlassungen auch den Partner des Patienten ein, sehr interessant. Ab S. 110 beschreibt er vier Seiten lang seine erste eigene Liebe mit 11 – als Beispiel für einen unheilbaren Romantiker.

Eine Geschichte sticht heraus: Sie spielt in einem düsteren nordenglischen Kaff, Tallis berichtet aus eigenen jungen Jahren. Hier erzählt er viele Seiten am Stück sehr spannend, dem folgen durchgehend mehrere Seiten nachträgliche Analyse, und schließlich das Bekenntnis: Dieses Erlebnis brachte ihn zum Psychologiestudium. Ein anderes Kapitel enthält mehrere kurze Episoden zu verführerischen Klientinnen, angeschlossen ein längerer Aufsatz zu Übertragung, Gegenübertragung und den Gefahren einer Beziehung mit Klientinnen.

Englisch und Deutsch:

Ich kenne nur das engl. Original als engl. Little, Brown-Taschenbuch und kann die Eindeutschung von Liselotte Prugger nicht beurteilen.Wie alle Belletristik und Sachbücher, die auf Englisch entstanden, habe ich auch dieses Buch auf Englisch gelesen.

In diesem Fall hätte ich mir jedoch manchmal die deutsche Fassung gewünscht, um die Originalfachausdrücke der Psychologenzunft bis zurück zu Freud und Breuer kennenzulernen. Tallis zitiert reichlich deutschsprachige Wissenschaftler und ich würde vermuten, dass im deutschsprachigen Raum Lehrende vor der Millenial-Generation noch deutschsprachige Fachausdrücke kreierten/verwendeten (nicht nur 1:1-Germanisierung englischer Ausdrücke).

Zwar lässt sich Tallis’ Englisch samt seiner englischen Fachausdrücke meist gut verstehen, zumal wenn man auch Latein kann. Doch will man die korrekten deutschen Fachausdrücke für ein Symptom erfahren, muss man erst googeln – oder gleich die deutsche Buchausgabe lesen und auf eine kompetente Übersetzung hoffen.

Die Fälle im einzelnen:

  • Verheiratete Frau verliebt sich in ihren verh. Zahnarzt, erwartet unbeirrt Gegenliebe
  • 70jährige vermisst verstorbenen Ehemann im Bett, sieht ihn als Geist
  • Langbeinige Schönheit sehr kontrollwütig
  • Sexsüchtiger verheirateter Unternehmer (erinnert an den Roman Lucrecia515)
  • Atheist, der nur an die Liebe glaubt, wird verlassen
  • Verliebter Religiöser zerbricht an vorehelicher Enthaltsamkeit
  • Zwei Frauen erzählen von Sex à trois; Gegenübertragung
  • Schwuler mit Schuldgefühlen, Analabneigung, Narzissmus
  • Dämon treibt Jungmann ins Puff
  • Abstinenter Pädophiler
  • Paar redet nur Allgemeinplätze
  • Zornige verlassene Ehefrau; Liebe als genetische Bedingung fürs Überleben; Hirnobduktion

Assoziation:

  • Frank Tallis beschreibt teils ähnliche Fälle wie Irvin D. Yalom in Die Liebe und ihr Henker. Tallis‘ Geschichten sind etwas kürzer, noch etwas skurriler. Andererseits dachte ich bei Yalom manchmal, so verrückt sind nur die Kalifornier. Beide Autoren reden gelegentlich über Therapieansätze, für meinen Geschmack jeweils etwas zu ausführlich. Beide Autoren schreiben trotzdem gut lesbar, fast wie Belletristen.
  • Psychotherapeutin Lori Gottlieb schreibt in Vielleicht solltest Du mal mit jemandem darüber reden über etwas weniger exzentrische Figuren als Yalom und Tallis
  • Keine Parallelen fand ich in den Büchern von Tallis’ Kollege Wolfgang Schmidbauer.
  • Ebenfalls im NHS spielt Jetzt tut es gleich ein bisschen weh, wenn auch Psychologie nur nebenbei vorkommt.

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