Kritik Kurzgeschichten: Ernest Hemingway: The Collected Stories – 7 Sterne

Der Sammelband enthält die Hemingway-Kurzgeschichten der ursprünglichen Bände in our time (kleingeschrieben), In Our Time (großgeschrieben, und in our time mit enthaltend), Men Without Women und Winner Take Nothing sowie danach veröffentlichte Geschichten wie Snow on the Kilimanjaro und The Short Happy Life of Francis Macomber. Die Einleitung schrieb James Fenton, der die Geschichten auswählte.

Fenton bringt die Geschichten in der Reihenfolge des Erscheinens, also vor allem geordnet nach Hemingways ursprünglichen, frühen Kurzgeschichtenbänden (allerdings erscheinen Juvenilia am Ende). Damit liest man die Geschichten nicht in der Reihenfolge des Entstehens und nicht nach Zusammengehörigkeit; zwei Beispiele:

  • die vielgelobte Story Indian Camp steht auf S. 42; das Exzerpt Three Shots mit der Vorgeschichte zu Indian Camp, das erst nach Hemingways Tod erschien, steht auf S. 551. Auf diesen Zusammenhang weist Fenton nur kurz in der Einleitung hin, aber es gibt keine Erläuterungen direkt bei den einzelnen Geschichten.
  • die ebenso gerühmte Story Big Two-Hearted River, Part I und II, beginnt auf Seite 143; das davon abgetrennte Ende, das erst posthum erschien, beginnt auf Seite 625

Man muss das also erstmal finden.

Gesamteindruck der Geschichten:

Themen sind u.a. nicht-kriegerische Erlebnisse im ersten Weltkrieg in Italien, blutige Erlebnisse im zweiten Weltkrieg und im spanischen Bürgerkrieg, Erlebnisse in der US-Natur, Stierkämpfer, Paardiskussionen unter US-Amerikanern, ein paar wunderliche Grotesken, ein bisschen Kuba, US-Tourismus in Europa und Afrika. Liest man die Geschichten in der Reihenfolge der ursprünglichen Ausgaben (so wie auch hier in den Collected Stories), weiß man nie, was einen in der nächsten Geschichte erwartet – Thema, Umgebung, Figuren, Stimmung, Stil wechseln von Geschichte zu Geschichte. Afrika und starke Depression erscheinen erst gegen Ende der zu Hems Lebzeiten veröffentlichten Geschichten: die Geschichten Snows on the Kilimanjaro und Short Happy Macomber bringen bis dato völlig unbekannte Noten.

Generell schreibt Hemingway starke Dialoge – sofern die Geschichten dialogisch sind, das sind viele, aber nicht alle. Überwiegend ist die Stimmung trocken, ernst bis melancholisch (aber nicht immer).

Hemingway schreibt zumeist linear chronologisch ohne Rückblenden, oft nur über einen kurzen Zeitraum, kredenzt also nicht raumgreifende Mini-Romane à la W. Somerset Maugham. Per Eisbergtheorie lässt er vieles weg, so dass ich einige Geschichten nicht ohne Nachhilfe aus dem Internet verstand – das passiert mir bei anderen Autoren nicht. (Bei Big Two-Hearted River erkannte auch Herausgeber Fenton laut Vorwort nicht, dass es sich um einen traumatisierten Kriegsheimkehrer handelt. Dies müsse man aus externen Quellen schließen, zum Beispiel aus gestrichenen Passagen oder späteren Äußerungen des Autors.)

Kein Best of:

Vermutlich liefern solche Collected Stories u.ä. alles Wichtige – aber eben auch ein paar Skurrilitäten, auf die ich verzichten kann (wie etwa hier das komplette in our time und dessen Übernahmen in In Our Time sowie einige Wunderlichkeiten aus Men Without Women und einige posthum erschienene Sachen).

Ich habe diese Collected Stories gebraucht bestellt, weil es kein “Best of Hemingway Kurzgeschichten” gibt – nur frühe kurze Sammlungen und Quasi-Gesamtausgaben wie diese hier. Die englische Sammlung The Snows on Kilimanjaro and Other Stories scheint aber zehn oder elf besonders bekannte Stories zu versammeln.

(F. Scott Fitzgerald schrieb vielleicht noch mehr Kurzgeschichten als sein Zeitgenosse und Vielleicht-Freund Hemingway; von Fitzgerald gibt es aber einen dicken Band mit seinen besseren 43 Kurzgeschichten, ausgewählt und kurz kommentiert von Professor Bruccoli. Natürlich ist so eine Auswahl anfechtbar; dennoch hätte ich gern etwas Entsprechendes von Ernest Hemingway – lieber als Sammelbände mit praktisch allen Geschichten oder als Einzelbände wie Männer ohne Frauen, die jeweils Herausragendes und weniger Begeisterndes unvorhersehbar mischen.)

Ausstattung:

Wer grundsätzlich fest gebundene Bücher mag, findet an dieser Ausgabe der Serie Everyman’s Library vielleicht Gefallen: Der Schutzumschlag ist etwas fester und wasserfester als bei anderen Büchern, der Druck gestochen scharf, ich hätte allerdings gern etwas größere Buchstaben und vielleicht einen anderen Font (verwendet lt. Nachbemerkung Schriftart Bembo, entworfen 1495). Sehr angenehmes glattes, nicht grelles Papier.

Es gibt ein dunkelblaues Lesebändchen. Die über 800 Seiten (inkl. dem anders paginierten Vorwort) sind etwa 4,3 Zentimeter stark und 836 Gramm schwer. Das Buch bleibt aufgeschlagen liegen und fällt meist nicht zu; in einem stabilen Leseständer lässt es sich damit gut lesen, ohne dass sich Seiten selbständig machen.

Wie die Perlen finden:

Muss man alles lesen? Wie filtert man aus Dutzenden Kurzgeschichten der Collected Stories die besseren heraus?

Ein paar verstreute Hinweise auf Gutes und weniger Gutes liefert auch Herausgeber James Fenton im Vorwort – auch auf Texte, die Hemingway nie gedruckt sehen wollte.

Ich kannte schon Hemingways frühen, schmalen Kurzgeschichtenband Männer ohne Frauen (1927, engl. Men without Women). Er hat ganz famose Stories und absolute Banalitäten, die ich nicht zwingend brauche (eine heißt denn auch Banal Story). Die Wikipedia-Seite zu Männer ohne Frauen nennt die Kurzgeschichten einzeln und hat zu einigen Kurzgeschichten Links, in denen die einzelne Geschichte vorgestellt wird. Die Geschichten, die mir besser gefielen, hatten grundsätzlich einen Link; die banalen Gschichterln hatten teils keinen Link, also keinen eigenen Wikipedia-Eintrag.

Ich hab’s dann bei den Collected Stories so gemacht: Die Wikipediaseite zu dieser speziellen Hemingway-Sammlung listet wieder alle Geschichten einzeln auf. Ich habe sie mir ausgedruckt und ins Buch gelegt, außerdem in alle meine Cloudspeicher kopiert. Dann konnte ich immer sehen, ob eine Geschichte einen eigenen Eintrag hatte oder nicht. Welche Stories ich dann gelesen habe, verrate ich nicht.

Eine Orientierung liefert auch die Abstimmungsseite The Ranker zu The Best Ernest Hemingway Short Stories, auch wenn ich die Reihenfolge teils absurd finde (1,700 Stimmen von 662 Teilnehmern zu 40 Geschichten im September 2019; mindestens ein Fehler: die Geschichte Hills Like White Elephants wird fälschlich der Sammlung In Our Time zugeordnet).

Theoretisch kann man auch nachsehen, welche Kurzgeschichten eine eigene Seite auf Goodreads haben.

Die Geschichten:

Up in Michigan: Schöne Wildweststädtchenatmosphäre (wenn auch in Michigan), rauhe Männer, liebe Frauen, sehr sicherer umgangsprachlich-männlicher Erzählton, und Hemingway erst ca 23 Jahre alt

Vormals in our time (kleingeschrieben)

Diese Sammlung enthält lakonische, oft brutal mörderische Miniaturen aus dem Krieg, außerdem brutale Polizeieinsätze und Stierkämpfe, nicht mein Fall; diese Miniaturen kehren offenbar 1:1 wieder zwischen den etwas längeren Geschichten von In Our Time (mit großen Anfangsbuchstaben)

Vormals In Our Time (große Anfangsbuchstaben)

Einige Geschichten dieser Sammlung schließen vage aneinander an, u.a. die Jugenderlebnisse des Hemingway-alter egos Nick Adams. Er wirkt sensibel und reserviert hier. Weitere Hauptthemen, typisch für den jungen Hem: Urlaub in Italien; Soldat in Krankenlager des ersten Weltkriegs. Es gibt weniger coole Männermacker.

Hemingway schreibt knapp, maulfaul, völlig unprätentiös ohne jede Stilfigur; trifft bei Bedarf Mundart hervorragend. Der Text zeigt nur die Spitze des Eisbergs; den Rest der Handlung muss der Leser sich selbst denken. Dann wieder wiederholt Hemingway Sätze, scheinbar sinnlos, aber bei Hemingway wirkt’s.

  • On the Quai at Smyrna: Türkinnen mit toten Neugeborenen; Krieg; Geschichte nachträglich aufgenommen, aber verzichtbar, harmoniert nicht mit übrigen Kurzgeschichten (nur mit den aus in our time übernommenen Kriegsminiaturen) (unverdient Platz 36 im Ranker)
  • Indian Camp: Viel gelobt, Junge erlebt Geburt und Tod; eindrucksvoll reduzierter Stil; Vorspiel dazu in der Geschichte Three Shots (Platz 5 im Ranker)
  • The Doctor and the Doctor’s Wife: Indianische Arbeiter sollen für Weißen vermeintlich gestohlenes Holz sägen; ebenfalls sehr gut, sehr lakonisch (Platz 17 im Ranker)
  • The End of Something: Teenager-Beziehung endet beim Angeln (Platz 8 im Ranker)
  • The Three-Day Blow: Fortsetzung v. The End of Something: Teen-Jungs saufen, reden über Väter, Sportclubs, Literatur, Schlussmachen (Platz 11 im Ranker)
  • The Battler: Nick Adams wird im finstern Wald von halb verrücktem Ex-Boxer bedroht und von einem “Negro” gerettet (früher stand dort offenbar “nigger”); wieder eine lakonische, scheinbar flüchtige Episode, die dennoch im Gedächtnis bleibt
  • A Very Short Story (Platz 15 im Ranker): Soldat und Pflegerin in 1.-Weltkrieg-Hospital lieben sich, doch dann nimmt sie einen anderen (bekanntes Thema)
  • Soldier’s Home: Antriebsloser Kriegsheimkehrer vertrödelt 1919 die Zeit (Platz 10 im Ranker)
  • The Revolutionist (Platz 38 im Ranker): Kommunist flieht vor Verfolgung durch Italien
  • Mr. and Mrs. Elliot: 25jähriger und 40jährige Ehefrau bekommen trotz aller Anstrengung kein Kind, werden zu WG
  • Cat in the Rain: US-Ehepaar urlaubt in Cortina, Frau will Katze und lange Haare haben, vage Erinnerungen an F. Scott Fitzgeralds Geschichten der selben Dekade (Platz 7 im Ranker)
  • Out of Season: Urlaubendes US-Ehepaar will mit betrunkenem Italiener unerlaubt angeln (Platz 30 im Ranker)
  • Cross-Country Snow (Platz 24 im Ranker): 2 US-Skifahrer genießen Abfahrt und Wein in der Hütte
  • My Old Man: Ich-Erzähler-Sohn begleitet Jockey-Vater bei Arbeit in Mailand und Paris, schöne Kinderperspektive, große offene Frage am Ende; Beschreibung des Pferderennens gegen Ende erinnert an Boxkampf bzw. Stierkampf gegen Ende zweier Kurzgeschichten in Men Wiithout Women
  • Big Two-Hearted River, Part I, Part II: Nick Adams wandert durch verbrannte Natur, betrachtet Forellen; Teil 2 lange Angelbeschreibung (der junge Mann und der Fluss); vielgelobt; spannungsbogen- und dialogfrei, weitgehend nur 1 Person; als Fortsetzung von A Way You’ll Never Be a.d. nachfolgenden KG-Band lesbar; Fortsetzung von Two-Hearted River in posthum veröffentlichtem Teil On Writing, quasi Big Two-Hearted River, Part III, schließt nicht nahtlos an, evtl. weniger redigiert, m.E. viel schlechter, nicht zu Ende gelesen

Vormals Men without Women (1927)

In dieser Kurzgeschichtensammlung wird der Ton deutlich männlicher, mehr einsame Hemingway-Kämpfer und -Macker ziehen ihre Kreise, die Schreibe fast aufdringlich gut und reduziert, u.a. in den Highlight-Geschichten The Killers und The Undefeated; siehe zu dieser 1927er-Sammlung meine separate Besprechung.

Vormals Winner Take Nothing (1933)

Hier wird der Ton teils spürbar weniger lakonisch, weniger reduziert. Beispiel ist die fast aufdringliche Art, wie Hemingway Stürme, Kämpfe und Mentalität in After the Storm und A Way You’ll Never Be schildert oder auch dieser Satz aus A Clean, Well-Lighted Place:

‘You should have killed yourself last week,’, he said to the deaf man.

Diese direkte Rede ist ohnehin schon sehr hart und wenig beiläufig. Dass der Adressat “deaf”/taub ist, gibt dem Ganzen natürlich einen anderen Dreh. Allerdings wissen wir zu dem Zeitpunkt schon, dass der Sprecher sich an einen Tauben wendet, darum sollte es hier nicht aufdringlich wiederholt werden. Und hatte Hemingway nicht was gegen Adjektive?

  • After the Storm: Seemann will zu untergegangenem Passagierdampfer tauchen und zwischen den Ertrunkenen nach Wertsachen suchen; 2001 stark dramatisiert verfilmt
  •  A Clean, Well-Lighted Place (Platz 1 im Ranker): viel gerühmt; zwei Kellner lästern über alten Tauben, der auch nachts um 2.30 Uhr nicht nach Hause gehen will; erinnert an das bekannte nächtliche Hopper-Gemälde
  •  The Light of the World: Heterogenes Grüppchen plauscht im Wartesaal; erinnert in gewisser Hinsicht an das heterogene Personal aus The Gambler, The Nun and the Radio
  •  God Rest You Merry, Gentlemen: jg. Mann will kastriert werden, 2 Ärzte lehnen ab; kurze Semi-Groteske
  •  The Sea Change (Platz 31 im Ranker): Uneiniger Paar-Dialog über ihren lesbischen Seitensprung; erinnert aspektweise an die Hem-KG Hills like White Elephants aus Men Without Woment
  •  A Way You’ll Never Be: Körperliche und seelische Verwundungen im 1. Weltkrieg; verwirrend, einfache Erklärung bei CliffsNotes; als Vorgeschichte zu Big Two-Hearted River a.d. vorherigen KG-Band lesbar
  •  The Mother of a Queen (Platz 40 im Ranker): leicht gockelhafter Torero will seinen US-Manager nicht bezahlen, obwohl er für anderes Geld hat; dialogreich und damit bei Hemingway automatisch gut
  •  One Reader Writes (Platz 39 im Ranker): Frau befragt Briefkastenonkel zu mögl. Syphilis-Erkrankung ihres Ehemanns; sehr kurz
  •  Homage to Switzerland: drei drollige Dramolette, US-Tourist plauscht in Schweizer Bahnhöfen mit Einheimischen (Julian Barnes liest die Geschichte im Guardian (Audio) und schreibt seine Version davon im New Yorker (Lesetext))
  •  A Day’s Wait: ernster Neunjähriger glaubt sich wegen eines Missverständnisses todkrank
  •  A Natural History of the Dead (Platz 32 im Ranker): (abgebrochen nach 2 Absätzen u.w. Stichproben)
  •  Wine of Wyoming: frz. Wirtsfamilie in USA, liebenswert, nettes Englisch-Französisch-Pidgin
  •  The Gambler, the Nun, and the Radio (Platz 20 im Ranker): kurioses Soziotop in Provinzkrankenhaus; erinnert in gewisser Hinsicht an das Grüppchen aus The Light of the World
  •  Fathers and Sons (Platz 13 im Ranker): 3 Generationen USA-Amerikaner; 1. körperliche Liebe; Hörnchenjagd

Stories from The Fifth Column and the First Forty-Nine Stories (1938)

  • The Capital of the World: Heterogenes Grüppchen in Hotel in Madrid, u.a. Stierkämpfer, Priester und Zimmermägde; und ein Unglück
  • The Snows of Kilimanjaro: “He had had his life and it was over and then he went on living it again with different people and more money”
  • The Short Happy Life of Francis Macomber (1936): “He, Robert Wilson, carried a double size cot on safari to accommodate any windfalls he might receive.”
  • Old Man at the Bridge (1938)

Einige weitere:

Einige Geschichten hier im zweiten Teil der Collected Stories sind harter Kriegstobak, das brauche ich nicht immer; darum habe ich nur eine Auswahl gelesen, auch ausgehend von knappen Hinweisen aus dem Vorwort.

  • Under the Ridge (1939): Harte Geschichte a.d. spanischen Bürgerkrieg
  • Nobody Ever Dies (1939): beklemmende Bürgerkriegsgeschichte, wenn auch in Kuba
  • The Good Lion (1951): knappe Fabel über geflügelten Löwen, der nur Spaghetti isst, während die ungeflügelten Kollegen gern “Hindu trader” knuspern
  • The Faithful Bull (1951): Mikrofabel um Kampfstier
  • A Man of the World (1957): Blinder erzählt von Kampf, der ihn das Augenlicht kostete
  • Get a Seeing-Eyed Dog (1957): Frisch Erblindeter und seine Partnerin
  • Night Before Landing: Gespräch auf Schiff, das zu Kriegseinsatz nach FR fährt
  • Summer People: Jugend badend, Hormone sprudelnd
  • I Guess Everything Reminds You of Something (1955): Hochtalentierter Junge – mit einem Geheimnis
  • Great News from the Mainland: Fortsetzung des Vorhergehenden, Junge jetzt in Behandlung
  • The Strange Country: “‘I love you,’ he lied. I love what we did he meant.” Paar vormals Geschiedener fährt durch Florida; langer, nicht weiter verfolgter Romananfang, wohl autobiogr.

2013 veröffentlichte der Guardian eine bis dato unveröffentlichte frühe Stierkampf-Humoreske Hemingways, My Life in the Bull Ring with Donald Ogden Stewart.

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