Buchkritik: The Last Sultan. The Life and Times of Ahmet Ertegun, von Robert Greenfield 2012 – Biografie über den schillernden Chef von Atlantic Records – mit 4 Videos – 7 Sterne – mit Presse-Links

Der etablierte Popjournalist Robert Greenfield schildert das aufregende Leben des US-Plattenmanagers Ahmet Ertegün (1923 – 2006) – von der Kindheit als Sohn des türkischen Botschafters in den Hauptstädten der westlichen Welt bis zu Ertegüns Zeit als Chef von Atlantic Records: Er arbeitet mit Ray Charles, Neil Young, den Rolling Stones, Led Zeppelin, aber auch mit Franz Beckenbauer. Der Biograf interessiert sich dabei mehr fürs Showbiz als für den Menschen Ahmet Ertegün (bei Greenfield stets Ertegun).

Das Buch ist Ertegüns Witwe und seiner Schwester gewidmet, die Greenfield wesentlich unterstützten. Die Biografie erschien offenbar noch nicht auf Deutsch (Stand November 2014).

Ungewöhnliches Leben:

Schon Ertegüns Jugend war ungewöhnlich und klingt wie ein Roman: Der Vater ist Botschafter in Bern, Paris, London und schließlich in Washington. Geboren in Istanbul, lebt Ertegün darum seit dem zweiten Lebensjahr im Ausland, immer in pompösen Residenzen mit Gouvernanten, Fahrern und Gärtnern. Der Vater ist außerdem strenger Moslem, Patriot und Jurist, die Mutter lebensfrohe Musikliebhaberin, die im Ausland Heimweh bekommt. Ganz eigene Musikerfahrungen macht Ertegün, als er 1933 in London zum ersten Mal Duke Ellington live hört – er ist angedonnert.

Den Umzug nach Amerika als Teenager begrüßt Ertegün: endlich näher an den Jazz. Auf der Suche nach der heißesten Musik begibt sich der stets bizarr-aufwändig gekleidete Diplomatensohn in die ärmsten Viertel, oft der einzige Nicht-Afroamerikaner. Einmal kommt er erst um acht Uhr morgens heim, es wurde schon gesucht nach ihm. Er und sein Bruder Nesuhin laden schwarze Jazzer zu Konzerten in die türkische Botschaft ein, was zornige Südstaaten-Senatoren schriftlich missbilligen.

Einblick ins Musikgeschäft:

Das Musikgeschäft in den 40ern und 50ern war abenteuerlich. Ertegün und Kompagnons unternahmen lange Reisen in Südstaatenmetropolen, auf der Suche nach geeigneten Bluesern und Jazzern. Radiomoderatoren schickten sie nicht nur Bargeld (Stichwort: Payola), sondern auch Bagger, die deren Swimmingpool aushoben – und Wohlverhalten im Gegenzug war nicht garantiert. Platten wurden komplett live aufgenommen, Studios pro Stunde gemietet.

Später wird das Geschäft aufwändiger. Die Mafia kommt ins Spiel, Bargeld kursiert, Bands werden zwischen Plattenfirmen regelrecht getauscht. Atlantic wird verkauft, Ertegun bleibt als Angestellter dabei – mit immer mehr Freiheiten, aber weniger Macht (mehr über die US-Plattenindustrie von den 50ern bis in die späten 80er Jahre in Fredric Dannens Monographie Hit Men).

Spannende Geschichte:

Rockjournalist Robert Greenfield (vor Jahrzehnten las ich sein Buch über den Musikmanager Bill Graham) schreibt überwiegend flüssig und elegant. Man kann das Buch kaum weglegen, auch weil das Musikgeschäft so gehetzt ist und permanent neue Figuren, neue Musikstile und Hits auftauchen.

Zur Unterhaltung tragen pfiffige Sätze Ertegüns und anderer Akteure in coolstem Hipster-Englisch bei – auch weitere Anekdoten amüsieren. Kapitel oder Unterkapitel beendet Greenfeld in der ersten Buchhälfte gern mit Cliffhangern oder Andeutungen – das rundet den Text, signalisiert Etappenziele und weckt Interesse an den nächsten Seiten.

Insgesamt gefiel mir die erste Buchhälfte besser. Ich kann nicht genau sagen, ob Greenfield hier besser schreibt oder ob es am für mich interessanteren Inhalt liegt. Tatsächlich hatte Ertegün in späteren Jahren zwar noch viel Geld, aber nicht mehr so viel persönliche Macht und das Musikgeschäft mit seinen sterilen Riesenkonzernen faszinierte weniger als in den 50ern und 60ern. Mich persönlich interessieren auch die Musiker und die Kulissen der ersten Buchhälfte mehr als spätere Figuren wie Led Zeppelin, Mick Jagger oder Kid Rock.

Greenfields unangenehm prätentiöser Vorspann über die Trauerfeier mit Dutzenden A-Stars und Besserwissereien ist ein Ausrutscher: Dieser Text scheint von einem anderen Autor oder zumindest aus einem anderen Projekt zu stammen. Ich vermute, hier verwertete Greenfield einen eigenen Zeitschriftentext erneut.

Irritationen:

Gelegentlich irritieren Kleinigkeiten: So benennt Greenfield die Hauptakteure mit unterschiedlichen Nachnamen und nur verspätet erfahren wir, dass der Nachname Ertegün erst nachträglich zur Familie kam. Auch sonst bleiben Bezüge mitunter weniger klar als möglich, Sätze klingen zu verschachtelt. Mitunter bringt Greenfield zweimal hintereinander Imperfekt, statt die Abfolge durch ein einzelnes Plusquamperfekt zu verdeutlichen. Jahreszahlen nennt Greenfield weitaus zu selten.

Frank Zappa bewunderte Ertegün offenbar, doch er hat nur einen winzigen Auftritt im Buch. Gern mehr hätte ich auch über Ahmet Ertegüns älteren Bruder Nesuhi gelesen, der unabhängig von Ahmet und später als Partner neben ihm mit Jazzgrößen wie John Coltrane, Charles Mingus und dem Modern Jazz Quartet arbeitete.

Sonst schildert Greenfield indes oft zu ausführlich, so etwa die Rolle von Ertegüns Vater in der türkischen Innenpolitik vor Ertegüns Geburt; aber das ist immerhin eine spannende Geschichte. Auch die Tochter des Rechtsanwalts der Musiker, die nie für Ertegün arbeiteten, die aber Paul McCartney heiratete, müsste vielleicht nicht erwähnt werden. Manche Anekdote wirkt beliebig.

Seine eigenen (offenbar seltenen) Begegnungen mit Ertegün erwähnt Autor und Brancheninsider Greenfield dagegen erst bei den Danksagungen am Ende. Insgesamt liefert er rund 360 Seiten Biografie, plus 70 Seiten Anhang.

Quellen:

Greenfield liefert reichlich Zitate in Anführungszeichen, doch nicht immer ist der Urheber klar: Es gibt keine Fußnoten. Der Leser muss zum Quellenverzeichnis am Ende blättern und in einer 44seitigen Liste die Hinweise zur entsprechenden Seite und dann zum dort erneut angeführten Zitat suchen – sehr mühsam. Freilich wirkt der Haupttext ohne Fußnoten und hochgestellte Ziffern weniger schwerfällig (und das Nachschlagen kann man sich oft auch ganz sparen).

Greenfield bringt außerdem ein ausgedehntes Literaturverzeichnis sowie elf Seiten enggedrucktes Stichwortverzeichnis. Zusätzlich hätte ich gern Zeittafeln und eine Liste mit den frühen Tophits von Atlantik Records gehabt. Noch besser wäre diese Liste auf einer Webseite mit Video-Links.

Bilderstrecke:

Der Buch-Innenteil zeigt 25 Fotos aus Ertegüns Leben, jeweils knapp eine halbe Seite groß, gedruckt in ordentlicher Qualität auf dem normalen Buchdruckpapier (das sich in der 740 Gramm schweren, englischen Hardcoverversion sehr angenehm anfühlt). Zwei weitere, größere Portraits erscheinen ganz am Anfang und am Ende des Bands. Längst nicht alle Bilder sind datiert.

Weil die Fotos nicht bis an den Seitenrand reichen und dort für eine schwarze Markierung sorgen, findet man die Aufnahmen nicht so leicht wieder, wenn man gelegentlich zu den Bildern zurückblättern möchte. Vielleicht sollte man im Bildteil ein Lesezeichen einstecken, und im Anmerkungenteil auch; das Hardcoverbuch mit Schutzumschlag hat übrigens kein einziges Lesebändchen.

Allerdings: Nicht alle Hauptakteure aus dem Buch erscheinen im Bild. Der Verlag zeigt einige uninteressante PR-Fotos von Stars ohne Ertegün, z.B. Ray Charles, Kid Rock, Buffalo Springfield, Led Zeppelin. Besser wäre, mehr von Ertegün und anderen Hintergrundakteuren wie Toningenieuren, Managern oder weniger bekannten Musikern abzubilden; u.a. fehlt Manager David Geffen. Auch Ertegüns türkisches Prunk-Domizil hätte man gern gesehen.

Flüchtige Bekanntschaft:

Wie oft bei Biographien: Greenfield hetzt durch die Ereignisse eines aufregenden Lebens, präsentiert einen interessanten Exzentriker nach dem anderen, durchleuchtet vor allem Geschäftliches, reiht zufällig aufgespürte Anekdoten irgendwie aneinander – und richtig persönlich lernt man Ertegün nicht kennen.

Dieser türkische Diplomatensohn in den USA verdiente sein erstes Geld mit Plattenproduktionen für ein schwarzes Publikum, nachdem er mehrere Studiengänge abgeschlossen und seinen Zahnarzt als Investor akquiriert hatte; zu Beginn seiner Karriere drohte Ertegün zeitweise US-Militärdienst oder aber Ausweisung. Man möchte genauer in seinen Kopf und in sein Herz blicken, doch Greenfield reiht lieber Deal an Deal, garniert mit Kuriosa; der Autor interessiert sich für die Branche, kaum für den Menschen.

Frauen spielen kaum eine Rolle – im Buch:

Zu wenig enthüllt Greenfield über Frauen. So wird der junge Ertegün mal als schüchtern, mal als homme des femmes beschrieben, immer eine Schöne an der Seite. Doch über Ertegüns früheste Erfahrungen gibt es rein gar nichts: Frauen spielen erstmals bei der ersten Hochzeit eine Rolle – doch da produzierte Ertegün bereits Ray Charles.

Und vorher? Von den Liebschaften nach der ersten Scheidung weiß Greenfield auch praktisch nichts, oder wie Ertegün sein immer ausschweifendes Leben während der zweiten Ehe mit der offenbar sehr entspannten Ehefrau Mica fortführen konnte.

Ein anderes Feld: Ertegün war offenkundig musikbegeistert, er brachte die passenden Künstler zusammen und zeigte ihnen die richtigen Wege. Doch Ertegün las weder Noten noch spielte er ein Instrument. Andererseits schrieb er zumindest in der Anfangszeit einige erfolgreiche Songs für sein Label (ob nur Text oder auch Musik, habe ich nicht verstanden), und er sorgte im Studio für den richtigen Stil. Wie viel Musikwissen in Ertegün steckte, dafür interessiert sich Greenfield nicht (aber er betont immer wieder Ertegüns Gespür für Trends und seine Faszination für gut gespielte Aufnahmen).

Beziehung zur Türkei:

Auch Ertegüns Bezug zu Familie und türkischer Heimat nach 1944, dem Tod des Vaters und türkischen Botschafters in den USA, bleibt völlig offen; Ertegüns Schwester, die nach dem Krieg in der Türkei lebte, unterstützte die Biografie wesentlich und hatte bestimmt etwas dazu zu sagen. Greenfield schreibt immer nur über Geschäfte, Konzerte, Plattenaufnahmen; wir erfahren ganz am Rand, dass Ertegün gelegentlich in die Türkei flog – und zwar mit dem Firmenjet, nur deswegen erwähnt Greenfield die Reise.

Manchmal empfing Ertegün Superstars wie Kid Rock auf seinem Anwesen in Bodrum. Er stand auch der American Turkish Society vor. Doch der Sohn eines türkischen Botschafters kehrte erst nach seinem Tod dauerhaft in die Türkei zurück, mit seiner chaotischen Beerdigung 2006 in Istanbul. (Ertegün starb 83jährig in New York, nachdem er bei einem Rolling Stones-Auftritt zur Aufzeichnung des Konzertfilms Shine a Light in der Toilette stolperte und auf den Kopf fiel.)

Spannende Figur:

Klar wird bei diesem Branchenbericht immerhin: Ertegün hat Humor, er hat Herz, er hat Stil, er kann über sich selbst lachen, er feiert exzessiv und dezidiert nicht-monogam und er schreibt Verdienste manchmal großherzig anderen zu. Er praktiziert verblüffende Verhandlungstricks.

Dabei ist Ertegüns Leben nicht nur voller Stars, sondern er schillert auch selbst: Durch seine ungewöhnliche Jugend, aber auch durch sein extrovertiertes Leben: Eine Zeitlang mietet Ertegün einen Bus mit Bar und Drei-Mann-Band, der ihn und den engsten Freundeskreis durchs New Yorker Nachtleben chauffiert; später fliegt er sein Team im Charter-Jumbo zu einer Sause nach Paris; im angesagten Club El Morocco erhält Ertegün Sonderkonditionen, weil er die Society anlockt. So ist Ertegün eine sympathische, lebendige und hochinteressante Hauptfigur für eine Biografie.

Als Chef der New York Cosmos holte Ertegün auch Pelé und Franz Beckenbauer nach New York, er gründete die Rock and Roll Hall of Fame mit und traf sich privat mit Henry Kissinger. Die New Yorker Fußballer hatte allerdings sein Bruder Nesuhi in den Plattenkonzern integriert, auch die Hall of Fame war ursprünglich nicht Ahmet Ertegüns Idee.

Wichtige frühe Singles von Ertegüns Firma Atlantic Records:

  • 1949: Stick McGhee, Drinkin’ Wine Spo-Dee-O-Dee (Musik auf YouTube)
  • 1949: Ruth Brown, So Long (Musik auf YouTube)
  • 1951: Big Joe Turner, Chains of Love (Musik auf YouTube)
  • 1954: Ray Charles, I Got a Woman (Musik auf YouTube)
  • 1954: Big Joe Turner, Shake Rattle & Roll (1. Video oben)
  • 1958: Bobby Darin, Splish Splash (Musik auf YouTube)
  • 1959: Bobby Darin, Mack The Knife (Musik auf YouTube)
  • 1959: Ray Charles, What I’d Say (Musik auf YouTube)
  • 1965: Sonny & Cher: I Got You Babe (2. Video oben)
  • 1967: Buffalo Springfield (mit Stills und Young), For What It’s Worth (3. Video von oben)
  • 1967: Aretha Franklin, Respect (produziert wie viele andere Titel hier von Atlantic-Co-Chef Jerry Wexler, einem Weißen) (letztes Video oben)
  • 1968: Otis Redding, Sitting on the Dock of the Bay (nur Vertrieb für Stax)

Danach wurden Alben wichtiger als Singles, meist Alben von weißen Musikern mit riesigen Egos, zu den ersten Alben-Stars zählen Crosby, Stills, Nash & Young in verschiedenen Konstellationen, Cream, Led Zeppelin (von Jerry Wexler verpflichtet) und die Rolling Stones ab 1971 (ab dem Album Exile in Main Street), von Ertegün zu Atlantic geholt und von Greenfield ausführlich beschrieben. Die Beatles rauschten zu Ertegüns immensem Bedauern knapp an ihm vorbei.

Ab 1999 zerstörte die Musiktauschbörse Napster die bisherige Einkommensgrundlage der Musikindustrie, iTunes entstand 2001, und Alben verloren wieder ihre Bedeutung.

Rezensionen:

Wie so oft bei Monografien einschließlich Biografien: Die Kritiker erzählen vor allem den Inhalt nach, hier Ertegüns Leben (zum Beispiel das Wall Street Journal), kommentieren aber kaum Greenfields Qualitäten oder Schwächen als Autor. Ein paar interessante Stimmen konnte ich dennoch finden.

HansBlog.de:

“Spannende Geschichten, aber eher atemloser Branchenreport als menschlich genaues Portrait einer schillernden Figur.”

L.A. Wayte, Leserrezensent bei Amazon.com:

This is not biography at its best. The author often gets caught up in a “this happened, then this happened” sort of chronological storytelling

New York Times:

Because Ertegün’s life story follows the basic outlines of the industry he helped to create, Greenfield’s book does become a lot less interesting as it goes along

Bloomberg Business Week:

An incisive and compelling account … Ertegün’s voracious acquisition of expensive artworks, his Louis Vuitton luggage fixation, his Gulfstream habit

Bruce, Rezensent bei Goodreads:

It’s most interesting when discussing the early days at Atlantic (borrowing money from his dentist to start the company)

American Blues Scene:

Greenfield enthralls readers with interesting, and at times scandalous, accounts of the inner workings of the music industry.”

Glide Magazine:

Some of the music is overlooked in the process. Atlantic’s extensive jazz catalogue, overseen by Ertegün’s brother Nesuhi, is skimmed over.

Kirkus Reviews:

The author entertainingly delineates Ertegün’s on-the-money musical taste, flamboyant personal style, antic prank-playing and ability to mingle with personalities

San Francisco Chronicle, nachgedruckt in Dallas News:

Mesmerizing, entertaining, informative…

Publishers Weekly:

overhypes his subject… Still, he gives us a vivid saga of the an industry in its salad days, and of the unholy but fertile union of money and music


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